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MICHAEL VOGELEY

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Die Mission: Auf „Schneeschuhen“ durch Grönland

Von Michael Vogeley

Der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen durchquert im Sommer 1888 erstmals das grönländische Inlandeis. Unter unvorstellbaren Strapazen überschreitet seine sechsköpfige Gruppe in 42 Tagen die 500 Kilometer breite Eiskappe. Grönlands Inneres war damals „terra incognita“, unbekannt und unvermessen. Nansen bringt mit dieser spektakulären Tat nicht nur Klarheit über die gigantische Inlandeismasse, die vom Meer bis auf 2900 Meter ansteigt, mit nach Hause. Er beweist auch die Funktionstüchtigkeit des Skis und legt damit den Grundstein für den weltweiten Siegeszug der langen Latten.

Zum hundertjährigen Jubiläum dieser für den Skilauf, die Arktisforschung und den Winteralpinismus epochalen Tat durchquert die TransGrönlandSchneeschuhExpedition – Gerhard Miosga, Walter Obster, Werner Schiller und ich – auf der Originalroute Nansens und mit denselben Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, die größte Insel der Welt „als erste Deutsche“ in historischer Mission. 400 Kilogramm Gepäck transportieren wir, wie vor hundert Jahren, auf selbstgezogenen Schlitten, die bei günstigem Wind besegelt werden. Nach 34 Tagen ohne Zivilisationskontakt stehen wir ausgehungert vor den Hütten des kleinen Dorfes Kapisigdlit am Kangeragdla-Fjord. Eine Idee, die ich mit an Besessenheit grenzender Akribie über drei Jahre verfolgte, ist erfolgreich beendet.

Hundert Jahre nach Nansen

„Mit der Eichelsau“, brüllt Walter, schaut seine bayerischen Spielkarten prüfend an und blickt beifallheischend in die Runde. „Stoß!“ Werner lugt unter seinem Mützenrand hervor und lässt das Kontra genüsslich auf der Zunge zergehen. Gerhard lacht verschmitzt. Sein obligatorisches Nasentröpferl schwankt hin und her und droht in den Becher abzuspringen, der dampfend vor ihm auf der Schneebank steht. Der tobende Sturm drückt gegen die knatternde große Plane, die als Essens- und Messezelt dient.

Gegen die Helligkeit zeichnet sich der meterhohe Wall ab, mit dem wir das Zelt vor dem mörderischen Wind schützen. Knapp 100 Stundenkilometer zeigt das Anemometer. Seit endlosen drei Tagen liegen wir hier fest, setzen kaum einen Fuß vor die „Tür“. Der Ausläufer eines tropischen Wirbelsturms nagelt uns mitten auf der grönländischen Eiskappe fest. Warten, warten, warten! Wie hatte ich geunkt? „Das Inlandeis wird uns noch den Hintern aufreißen!“ Jetzt bin ich mit der Buchführung des Schafkopfspieles beschäftigt und habe mit den behandschuhten Händen Probleme, den Bleistift zu führen, der in der Kälte nur widerwillig schreibt. Ich empfinde wenig Genugtuung, dass ich Recht behalten habe.

Heute tragen wir fünf Schichten Kleidung – von der Faserpelzunterwäsche bis zum Thermo-Überanzug. Höhe 2.400 Meter, es ist der zwanzigste Tag. Wir sind noch 80 Kilometer vom Eisrand der Westküste entfernt. Blick zurück …

Der letzte Mensch, den wir sehen, ist der Hubschrauberpilot. 200 Kilometer südlich von Angmagssaligk, 150 Meter über der ostgrönländischen Nansenbucht, setzt er uns mit seiner Bell-212 am 21. Juli am Rand einer Spaltenzone ab. „You're sure you want to do this?“ fragt er eindringlich. Dann energisch: „You have got the opportunity to return.“ Wir haben eineinhalb Jahre lang auf diesen Moment gewartet. Unsere Antwort ist klar: „Sag' in Deutschland Bescheid, dass wir gestartet sind.“ Die Triebwerke beginnen zu pfeifen, der Heli verschwindet in den Wolken.



Wir klettern hinunter zum Meer, wollen wir doch dort beginnen, wo auch Polarforscher und Skipionier Fridtjof Nansen aufgebrochen ist.

Das gehört zum selbst auferlegten Spiel des „by fair means“. Wir wollen 100 Jahre nach Nansen das Inlandeis auf der Originalroute vom Meer zum Meer überwinden – mit fairen Mitteln: ohne Motorschlitten, ohne Schlittenhunde, ohne irgendwelche künstlichen Hilfsmittel, nur auf unsere eigene Kraft vertrauend. Wie sagte Walter in bestem Filser-Englisch, als er gefragt wurde, warum wir die in der Arktis üblichen Schlittenhunde für die lange Strecke nicht mitnehmen: „We are ourself dogs.“

Am Start zum Ende der Welt

Der Preis für diese Idee sind vier schwere Schlitten, die all das enthalten, was man zum Überleben in der arktischen Wildnis braucht. Sie sind unsere Basis, unsere Stütze. Hier wurde früher das Ende der Welt vermutet. Eine kurze Lagebesprechung, der letzte Check; jeder von uns hat seinen Auftrag. Gerhard, Wissenschaftler und Berufspilot, übernimmt die Navigation und ist verantwortlich für das Segelkonzept; Werner, Maschinenbau-Ingenieur und Ausdauersportler aus Leidenschaft, ist für technische Fragen zuständig; Walter, Sportlehrer und Jäger aus Passion, soll die Gruppe medizinisch versorgen und im Notfall auch vor Eisbären schützen. Ich werde vor allem meine alpine Erfahrung einbringen.

Der Blick auf den Eisstrom, der vom Nordpol heruntertreibt, wirkt drohend. Am Startplatz Nansens wird der Gletscher von einem Felsriegel geteilt. Ein markanter, weithin sichtbarer Felsblock liegt wie ein Schaukelstein auf einem Granithöcker. In dessen Stirnseite hämmert Werner vier Löcher und schraubt eine Gedenktafel an, die uns der Deutsche Skiverbandes mitgegeben hat. Die Nachricht vom Start der Expedition und deren Idee deponieren wir darunter. Auf dem schwierig zu erkletternden Fels stapeln Walter und ich einen Steinmann, der so markant ist, dass er jeden, der in dieser Gegend vorbeikommt, anlocken wird. Doch wer kommt hier schon vorbei?

Es geht vorwärts nach Plan. 80 Kilometer Spaltengürtel liegen noch vor uns. Er trennt das Hochplateau mit dem ewigen Eis vom Atlantik. Der Drang zur Aktivität – nach zwei Jahren Vorbereitung – wird fast unkontrollierbar.

Regen im Eis

Das Wasser trommelt gallonenweise auf die Persennings der Schlitten. Alles andere hatten wir erwartet, nur nicht, dass es so kräftig regnen würde, obwohl es bei Nansen nicht anders war: „… der Regen strömte so auf uns herab, dass wir bis auf die Haut durchnässt waren. Wir hatten auch nicht einen trockenen Faden am Leib. Zum Frieren freilich hatten wir keine Veranlassung, obwohl ein ziemlich scharfer Wind blies. Die Arbeit hielt uns warm, und wir mussten uns aus Leibeskräften anstrengen.“

Der mühsame Anstieg benötigt viele Stunden, brutal ziehen uns die Schultergurte nach hinten, scheuern die Hüftgurte die Haut auf. 100 Kilogramm Gepäck und Verpflegung schleppt jeder auf seinem 10000 Mark teuren Test-Schlitten aus der Kunststoffschmiede eines deutschen Raumfahrtunternehmens durch das schroffe Gelände. Werner hat die Schlitten entworfen. Die Geometrie wurde auf die enge Kabine des Helikopters abgestimmt. Und auf „progressiv abnehmenden Druck“: Je weicher der Schnee, um so größer ist die Auflagefläche der busenförmigen Kufen.

Das Deutsche Museum in München schreibt später: „Aus der Sicht des Leistungsfanatikers ist der Mensch ein bedauernswertes Wesen. 100 Watt erbringen seine Muskelkräfte, 150 wenn er sich anstrengt. Jeder Staubsauger leistet mehr. Gelingt es jedoch durch technische Hilfsmittel, die geringen Körperkräfte optimal zu nutzen, dann reicht der zehnte Teil einer Pferdestärke aus, um zum Beispiel das grönländische Inlandeis zu durchqueren. Als Gegenstück zum alten Expeditionsschlitten mit Besegelung erhielten wir von der TransGrönlandSchneeschuhExpedition … eine Art Kunststoffwanne, die 100 kg trägt und selbst keine 6 kg wiegt. Kohlenstoff-Fasern und Titanbügel verstärken den bootsförmigen Körper. Ein so günstiges Verhältnis von Last zu Eigengewicht (mehr als 10:1) wird allenfalls von einem extrem leichten Rennrad erreicht.“

Nur langsam verschwindet der harte Fels unter Schnee und Eis. Werner wird ungeduldig: „Mich machen die vielen Felsinseln, diese Nunatakker, aggressiv. Ich will endlich raus in die Weite.“ Er meint die Felsgipfel, die wie Inseln aus dem Gletscher ragen und dem Druck des Eises trotzen. Am Abend ein Blick in Nansens Buch „Auf Schneeschuhen durch Grönland“. Es war Anstoß für die Expedition, tröstet jedoch nicht: „Wenn man einen Höhenrücken erreicht hat“, schildert der Norweger den Aufstieg, „liegt stets noch einer dahinter, der höher ist und die Aussicht versperrt.“

Mehr Mut macht das Frühstück. Es gibt Kaminwurzen. 140 Südtiroler Dauerwürste stecken im Gepäck, für jeden Tag eine pro Mann. Dann löffeln wir brav unseren Brei. Der Speiseplan für die nächsten Wochen steht schon seit langem fest. Ein Kilo schwer ist die Tagesration für jeden. Sie besteht hauptsächlich aus in Wasser eingerührtem Pulver mit Bananengeschmack – Formuladiät, Krankenhauskost, ursprünglich für Astronauten entwickelt. Ballaststofffrei und sofort energiespendend läuft das Getränk sahnig durch die ausgedörrten Kehlen und deckt zwei Drittel des auf täglich 4500 Minimum-Kilokalorien veranschlagten Bedarfs. Außerdem gibt's pro Tag ein Päckchen Nüsse und gefrostete Trockennahrung – sorgfältig in sieben Sorten getrennt, vom Nudeltopf bis zum Boeuf Stroganoff. Nansens Ernährung war nicht so ausgewogen. Besonders bei der Planung des Fettkonsums waren Fehler unterlaufen: „Der Fetthunger ging sogar soweit, dass Sverdrup mich eines Tages fragte, ob ich glaube, dass es ihm schaden könne, wenn er die Stiefelschmiere austränke, die aus altem gekochten Leinöl bestand.“

Gerhard darf heute den Topf auskratzen. „Das Geheimnis unserer Verpflegung“, behaupte ich, „sind die kleinen Freuden.“ Dazu gehören neben der Wurst auch Kakaopulver, eineinhalb Liter österreichischer Stroh-Rum – von Walter mit reinem Alkohol auf 95 Prozent hochgejubelt – und vier Tafeln Schokolade für alle, die Werner, „der Süße“, heimlich ins Gepäck geschmuggelt hat. Wichtiger ist im Moment allerdings die Frage, ob der Brennstoff für den Kocher richtig kalkuliert ist.

Noch etwas bewegt uns: Was passiert, wenn ein Eisbär kommt? Tatsache ist, dass in Grönland viele Geschichten erzählt werden, in denen einsame Bergsteiger kein gutes Ende nehmen. „Tatsache“, erzählt Walter, „ist aber auch, dass Bären auf Eisschollen mit dem Ostgrönlandstrom vom polaren Packeis nach Süden getrieben werden. Und dann haben sie kräftigen Hunger.“

Aber Walter hat auch vorgesorgt: „Wir haben das beste Gewehr der Welt!“ Seine Blaser-Büchse, Kaliber .338 Winchester Magnum, ist immer in der Nähe. Nachts liegt „seine Braut“ direkt neben dem Schlafsack. Daheim in Bayern haben wir mit ihm das Schießen geübt. Jeder von uns ist darauf trainiert, auf 100 Meter ein Ziel von der Größe eines Fünfmarkstücks zu treffen. In unseren Hosentaschen stecken je vier wasserdicht verpackte scharfe Patronen.

Fünf Tage lang mühen wir uns bergauf durch den Spaltengürtel. Der Schlitten ruckelt und bockt. So ist das immer, wenn man in diesem unebenen Gelände anzieht, die zwei Zentner über Schneewehen wuchtet und „das Schiff“ in die nächste Kuhle plumpst. Die Schneebahn ist wie eine Mondlandschaft. Wir wollten das Nichts und die Leere sehen. Nun beginnen wir, diese Leere zu durchwandern.

Gestern haben wir die letzte von ein paar hundert Spalten überschritten. Tief hingen die Schneebrücken über den Abgründen der Spalten durch. Hinter uns sehen wir – winzig – Holms- und Gamels-Nunatakker, die letzten im Gletscherstrom eingeschlossenen Felsen für Wochen. Vor uns – endlos – das große Weiß.

Weißes Schweigen

Der Wind frisst die letzte Wärme und das bisschen Kraft aus den Knochen. Über die flache Schneebahn fegen winzige Schneekristalle. Man hört nur das Schlurfen der Schlitten, das Schaben der Skier, das „Tick-tick“ der Skistöcke. Ab und zu hustet jemand, geredet wird nicht. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt und lugt aus dem engen Gesichtsfeld seiner Kapuze in Richtung Westen.

Der Sturm peitscht unsere Gesichter. Wir stemmen uns in die Zugseile und nehmen die Haltung von Skispringern im Fluge ein. Oft sehen wir aus wie Störche, stehen auf einem Bein, wenn der schwere Schlitten wieder einmal mit vollem Körpereinsatz über eine Schneewehe gewuchtet werden muss. Das Gepäck haben wir gerecht verteilt; jeder zieht das gleiche Gewicht und hat seine Überlebenseinheiten in der Kunststoffwanne. „Falls wir uns verlieren, kommt jeder von uns eine Zeitlang alleine durch“, hatten wir geplant. Wir folgen Nansens Spuren und tauchen für Wochen ein in das große, weiße Schweigen. Irgendwo bleiben wir stehen.



Am „größten Campingplatz der Welt“ ist es egal, wo man seine Zelte aufschlägt.

Heute haben wir keine zehn Kilometer geschafft.

Dann endlich: die Eiswüste. Noch 430 Kilometer bis zum Ziel. Wieder hat Fridtjof Nansen exakt beschrieben: „Wie ein weißer, diamantbesäter Teppich, fein und weich wie Daunen, breitet sich die Schneefläche in schwachen, fast unsichtbaren Wellen aus.“ Von Nansen wissen wir auch, dass die vermeintlich milde Sonne trügt. Werner stellte fest: „Man zieht bei diesem Strahlewetter die Handschuhe aus, weil man glaubt, es sei schön warm. Und ein paar Minuten später ist die Hand weißgefroren.“

Verantwortlich ist der Wind. Mit Sturmstärke fegt er ungebremst über die endlose Hochebene, steht uns mitten ins Gesicht und peitscht rundgeschliffene Schneekristalle gegen Wange und Nase. Wir registrieren ihn mit der Zeit kaum noch. Raum und Zeit verschwimmen, die Augen heften sich an den Vordermann und suchen längst nicht mehr nach dem Horizont. Es ist, als ob man sich auf einem riesigen Ozean bewegt. Die Schlittenkufen zerteilen den Pressschnee wie Eisbrecher das Packeis. Schweigend stapfen wir auf unseren Skiern durch eine Landschaft, die keine Dimensionen zu kennen scheint.

Gerhard holt das Schleuderthermometer aus der Anoraktasche und misst die objektive Temperatur: „15 Grad minus!“ Anschließend wirbeln die Schaufeln des Anemometer: „48*km/h Windgeschwindigkeit.“ Unter Berücksichtigung des Chill-Faktors ergibt das eine Temperatur von minus 42 Grad Celsius.

Unter dem Chill-Faktor versteht man den Auskühlungseffekt des Windes. Schon bei null Grad empfindet der Mensch kühlen Wind als schneidend. Physikalisch ist dies nicht verwunderlich, da der Wind die Körperwärme schneller ableitet. Man kühlt aus und friert. Fällt die Temperatur dann beträchtlich unter den Gefrierpunkt, kann diese Wärmeabfuhr derart rapide fortschreiten, dass in kürzester Zeit eine lebensbedrohliche Situation eintreten kann.

Der Chill-Faktor ist in der Arktis bekannt und gefürchtet. Bei der von Gerhard gemessenen Temperatur holt man sich an ungeschützter Haut blitzschnell Erfrierungen.

Auf den Spuren des Skilaufs

Unsere modernen eleganten Telemark-Ski mit Kunststoff-Steigfellen sind leicht und halten die Spur gut. Ohne sie würden wir schon bald versagen und uns im oft knietiefen Schnee vollständig verausgaben. Für zwei Meter Länge hatten wir uns entschieden. Schon Nansen hatte die Notwendigkeit von Skiern erkannt und damit deren Eignung im verschneiten Gelände bewiesen: „Wir hatten im ganzen neun Paar bei uns. Die Eichenskier hatten eine Länge von 2,30. Die Breite betrug vorn bei der Biegung 9,2 cm, von der Mitte bis nach hinten dagegen 8 cm. Die Birkenskier waren auf der unteren Fläche mit ganz dünnen Stahlplatten belegt, die unter dem Fuß eine .Öffnung hatten, in welche ein Stück Fell von einem Elentierfuß eingefügt war.“

Nansens „wahnsinnige Tat“ musste wie eine Offenbarung auf die zeitgenössischen europäischen Alpinisten wirken. Sie, die gerade die Erschließung der Alpen als erledigt betrachtet hatten, konnten nun in einem neuerlichen Anlauf die Alpen – nämlich im Winter, im Schnee – erobern. Nansen war bei seiner Grönlanddurchquerung nahe an 3000 Meter Seehöhe herangekommen. Durch Nansens Tat war der weltweite Siegeszug des Skis programmiert.

Alles läuft streng nach Plan, auch der Wechsel an der Spitze. Die Etappen werden von der Stoppuhr diktiert: eine Stunde zehn Minuten laufen; dann eine Viertelstunde Pause. Auch das Tagesziel ist vorgegeben: 20 Kilometer im Durchschnitt. Walter jammert über seine „aperen Schienbeine“ und hat seine eigene Theorie: „Haut ist eben nur begrenzt belastbar.“ Nachschlag: „Denken wir nur an das Jungfernhäutchen.“ Gerhard meint, seine Nasenspitze sei gefrostet. Sie hat wohl zuviel Wind abbekommen.



Die ungewöhnlichen physischen und psychischen Belastungen einer solchen Tour interessieren die Wissenschaft.

Für das Sportmedizinische Institut der Universität Würzburg sind wir Versuchskaninchen, „… um die gruppendynamischen Prozesse unter Berücksichtigung der geographischen und sozialen Isoliertheit und der besonderen Altersstruktur …“ zu untersuchen. Der Durchschnitt unseres Teams liegt bei 46 Jahren. Wir sind sicher die Ältesten, die je Grönland durchquert haben. Gerhard („Man ist so jung, wie man sich fühlt …“), ist 53. Werner, der „youngster“, steht kurz vor dem 40sten. Täglich wechseln wir die Zeltpartnerschaften, um Gruppenbildungen vorzubeugen. Wir haben das Beispiel einer Grönlandexpedition vor Augen, bei der sich am Start zwei der drei Mitglieder zerstritten und nicht mehr miteinander redeten.

Disziplin ist der Schlüssel zum Erfolg

Todmüde fallen wir abends in unsere Schlafsäcke mit spezieller Daunenfüllung, machen Kreuze auf wasserfestem Papier und formulieren in kurzen Sätzen die Eindrücke des Tages. Die vorbereiteten Fragebögen, die jeder für sich und intim beantwortet, sind Grundlage für das Forschungsprogramm und Basis für die Auswertung der Psychologen. Dr. Sigurd Baumann von der Universität Würzburg, unser wissenschaftlicher Betreuer, empfahl uns: „Ihr müsst euch gegenüber tolerant sein. Jeder muss jeden akzeptieren.“

„Disziplin“, beschwöre auch ich, „ist oberstes Prinzip dieser Tour, sonst schaffen wir es nicht.“ Disziplin heißt aber auch, dass wir alle Entscheidungen demokratisch fällen. Steht es zwei zu zwei, gibt der den Ausschlag, der im Problemfall am meisten Erfahrung hat. Jeder von uns hat seine Stärken und Kompetenzen. Wir ergänzen uns gegenseitig hervorragend. Doch noch besteht gar kein Grund für eine Kampfabstimmung.

Ein Halbkugelkompass, am Titan-Zuggestänge des vordersten Schlitten montiert, weist den Weg: unter Berücksichtigung der Missweisung 305 Grad geradeaus. Die Koordinaten im Kopf sind die einzige Orientierungshilfe.

White out, der in der Arktis gefürchtete Nebel, umfängt uns. Links scheint rechts, rechts scheint links zu sein, der Dunst lässt oben und unten verschwimmen. Weit breite ich die Arme mit den Skistöcken aus und taumele auf den schmalen Skiern im Sturm. Der Blick ist auf die tanzende Magnetnadel des Kompass geheftet. Man geht wie in einem Wattebausch, die Sinne narren. Ich überlege: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht verrückt werden.“ Wir tasten uns durch das Weiß und suchen nach einer optischen Bezugslinie.

Die verblüffende Missweisung in dieser polnahen Region von bis zu 43 Grad West muss ständig berücksichtigt werden. Nur das Odometer beweist, dass es doch – wenn auch nur langsam – vorwärts geht. Das Laufrad eines Rennrades, gekoppelt mit einem Kilometerzähler, ist nicht nur Navigationsgerät. Die allabendliche Motivation – „Haben wir wirklich so viele Kilometer gemacht?“ – ist wichtig.

Werner liest die zurückgelegte Strecke ab, Gerhard trägt die tägliche Distanz mit Filzstift auf der plastifizierten Karte ein und gibt dann das allabendliche „Bulletin“ heraus: „Höhe: 2360 Meter, Tourenzeit: 10 Stunden; reine Gehzeit: 8 Stunden; Distanz: 21,7 Kilometer; Durchschnittsgeschwindigkeit: 2,4 Stundenkilometer; momentane Geschwindigkeit: Null (Gelächter); totale Kilometer: 159 …“ Der länger werdende Strich auf der Karte visualisiert die bisherige Strecke.

Walter werkelt in seinem Schlafsack, zieht den Reißverschluss bis zur Nase hoch und die Kapuze über den Kopf. Mit dem ihm eigenen Organ brüllt er: „Jetzt kennt's kemma, ihr Minusgrade!“ Uns schaudert, nachts aus dem Schlafsack zu müssen und uns dem peitschenden Schnee auszusetzen. Nansen hatte zwei Rentierfellschlafsäcke für jeweils drei Personen dabei. Uns geht es da wesentlich besser.

Ich beschließe, erstmals nach Wochen die Unterwäsche zu wechseln. Die Prozedur im sturmgebeutelten Schlafzelt zeigt meine Fähigkeit als Schlangenmensch und dauert über eine Stunde. Fünf lange Wochen werden wir uns nicht waschen. Wir sind froh, die täglichen 20 Liter Trinkwasser aus Eis und Schnee zu gewinnen, und wir denken nicht daran, dies einem „sinnlosen Reinlichkeitswahn“ zu opfern. Nansen berichtet ehrlich: „Es würde vielleicht einen guten Eindruck machen, wenn wir anstandshalber sagen wollten, dass es uns sehr schwer geworden sei, uns während einer so langen Zeit nicht zu waschen und unsere Kleider nicht wechseln zu können, leider aber schulden wir es der Wahrheit zu gestehen, dass wir uns ganz außerordentlich wohl dabei fühlten.“

Die Innenschuhe der Tourenstiefel trocknen im Schlafsack nur mühsam. Die Schalen der Außenschuhe sind bockhart gefroren. Man kuschelt sich in die magere Intimität des Schlafsackes und liegt auf dieser maßlosen Tiefkühltruhe, die Grönland heißt.

Der Raureif rieselt vom Zeltdach. Ein neuer Tag, wie aus Glas geblasen, bricht an.

Fahnenweihe und Salut – der höchste Punkt

Der Kulminationspunkt ist erreicht: 2960 Meter über dem Meer zeigt der Höhenmesser. Bei strahlendem Sonnenschein hissen wir die dunkelblaue Fahne mit den gelben Sternen. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft erteilte uns den Auftrag dazu, „… der voll im Sinne der europäischen Bürger ist …“ und an einen großen Europäer erinnern soll: an Fridtjof Nansen. Der Riesenlappen weht sanft im Südwind und muss weit zu sehen sein. In einer am Fahnenmast festgebundenen Plastikflasche hinterlassen wir eine Nachricht „To the finder …“ über die Idee und den Verlauf der Expedition: „… approximate position 64"23'N,*44"30'W, 3rd of August.“ Walter opfert eine kostbare Patrone und schießt Salut.

Wir sind dick vermummt. Müde resümieren wir, dass heute die 200-Kilometer-Marke in dieser absoluten Wüste überschritten wurde. Doch wir sind zu kaputt, um Stolz zu entwickeln.

Langsam senkt sich das Kühlfach in Richtung Westen. Die warme Bananenmilch aus der Thermoskanne, unsere „Powerflasche“, macht die Tage schöner und spendet die notwendige Energie für die anstrengenden Etappen. Der Körper verweigert auf der Tour feste Nahrung. Bei jeder Pause trinken wir einige wenige Schlucke und füllen sofort wieder Schnee in die Flaschen nach. Der dicke, kälter werdende Brei wird gestreckt und muss den ganzen Tag reichen. Durst ist unser ständiger Begleiter. Nansen erging es ähnlich. Er hatte seine eigene Methode, den Flüssigkeitsbedarf seiner Mannschaft zu decken: „… mehrere Kameraden kauten stattdessen große Stücke geteerten Tauwerks. Weit angenehmer fand ich es, während des Marsches an Holzsplittern zu saugen, und sowohl Sverdrup wie ich arbeiteten dermaßen auf die Truger (Anmerkung: Schneereifen) los, dass sie ziemlich dünn waren, als wir endlich die Westküste erreichten.“ Spätestens nach der dritten Etappe träumen wir davon, dass endlich wieder unser Messezelt steht und der Kocher faucht. Oft schwimmen noch Schneestücke im Wasser, wenn wir gierig den ersten Mineraldrink hinunterstürzen.

„Wisst ihr noch?“ Ich sitze auf dem Schlittenrand und komme ins Schwärmen. „Könnt ihr euch noch an den Kühlraumtest erinnern?“ Wir lachen. Wir hatten uns akribisch vorbereitet, immer an der familiären und beruflichen Toleranzschwelle, und wollten nichts dem Zufall überlassen. Dazu gehörten das Gymnastikprogramm, das Lauftraining, die vielen Skitouren, die Biwaks in den Ötztaler Alpen und auf den Gletschern des Stubai, der Berglauf über 53 Kilometer und 2000 Höhenmeter im Karwendel, das Langlaufrennen im österreichischen Leutaschtal, der Marathon …



Nur ein Lausbubenstreich? Im Münchner Schlachthof zwischen tiefgefrorenen Kalbsteaks und Schweinehälften eine Nacht „unter realistischen Bedingungen“ verbringen.

Den getesteten Kocher warfen wir danach weg: untauglich.

Weiter gehörte aber auch mentale Vorbereitung dazu: lesen, sich informieren, diskutieren. Voraussehen, was vorauszusehen war, festlegen, regeln. Wie viele Expeditionen kamen zerstritten zurück, bekämpften sich bis aufs Messer und gaben der Paranoia in der wochenlangen Einsamkeit nach?

44: Schnapszahl ohne Schnaps

Zum Gebuurtstag viiiel Glüück …“ Werner und Walter singen es. Mein Ehrentag wird nicht nur akustisch gefeiert. Gerhards Wimpel stehen stramm im Wind: „44 Micha happy birthday“ und „München 3780 km“ stehen drauf. Vor der Tour hatten wir uns Regeln aufgestellt und vereinbart, dass nur mitgenommen werden darf, was gemeinsam beschlossen ist. Doch aus diesem Anlass sind die geschmuggelten paar Gramm erlaubt. Höhepunkt der Geschenke sind drei von den Tagesrationen der Freunde „abgezwackte“ Kaminwurzen und eine halbe Tüte Mineraldrink. So etwas vergisst man nie! Gestern haben wir die letzte Rumration ausgeteilt: 44 ist keine Schnapszahl.

Weiß, weiß, weiß, alles ist weiß. Weiß ist keine Farbe. Seit Wochen nichts als Weiß vor uns. Und das Blau des Himmels über uns – wenn er zu sehen ist! Das Inlandeis kann auch schön sein, vor allem wenn die Sonne scheint. Besonders dann, wenn wir abends in das niedrige Gestirn hineinzulaufen scheinen. Wir sind von dieser scheinbaren landschaftlichen Monotonie begeistert und haben Farbenspiele von einer Schönheit gesehen, die uns bisher verborgen waren.

Nansen empfand offensichtlich wie wir: „Wenn unsere Arbeit auch oft recht hart war, so hatten wir doch einen Ersatz in diesen Nächten mit Nordlicht und Mondschein – denn auch dieser Teil der Erde besitzt seine Schönheit. Wenn das ewig wechselnde Nordlicht seinen märchenhaften Tanz am südlichen Himmel in strahlenderer Pracht als sonst irgendwo antrat, so konnten wir alle Mühseligkeiten und alle Anstrengungen vergessen, oder wenn der Mond aufging und seine schweigsame Bahn über dem sternbesäten Himmel zurücklegte, auf den Gipfeln der Eiskämme spielend und die ganze tote, erstarrte Eiswelt in seinem Silberglanz badend, da senkte sich ein tiefer Friede über uns.“

Plötzlich wird der sausende Wind zum brüllenden Sturm und zwingt uns, vorzeitig den Tag zu beenden. Nur mühsam hält der leichtgewichtige Walter das Zelt fest, während wir im Toben der Elemente wankend Brocken aus der festen Schneekruste brechen, um die lebensnotwendige Unterkunft mit einem Wall zu schützen. „Wenn jetzt die Zelte davonfliegen sind wir ganz einfach tot“, schießt es mir durch den Kopf. Bis sie stehen, kostet uns das drei Stunden Schwerstarbeit, die uns kaputt macht bis zur Erschöpfung. Das weiße Nichts ist in Aufruhr. In der Kälte dauert alles länger – wenn die Finger steif sind und der Wind einem die Augen herausreißen will. Kaum sind die Biwaksachen verstaut, ist rundherum alles eingeschneit. Der Sturm wird zum Inferno, drückt die Zelte tief hinunter und engt unseren spärlichen Raum noch mehr ein. Das Moskitozelt am Einschlupf ist die letzte Barriere vor dem pulvrigen Flugschnee, der überall hereingeweht wird.

Drei Tage lang sitzen wir fest: Die trivialsten Handgriffe werden zur Qual, der Stuhlgang zum Problem. Mit einem an Stumpfsinn grenzenden Gleichmut warten wir darauf, dass der Blizzard verebbt. Reicht der Brennstoff, haben wir genügend Verpflegung? Was tun, wenn jetzt ein Eisbär auftaucht? Doch wir sind die einzigen Lebewesen in diesem gefrorenen Universum.

Nansen erging es ähnlich: „Drei Tage und drei Nächte … wurden wir von einem furchtbaren Wetter … ans Zelt gebannt. Während dieser Zeit verließen wir unsere Schlafsäcke nur auf kurze Augenblicke, um uns Essen zu holen oder dergleichen. Den größten Teil der Zeit verschliefen wir – gleich am Anfang schliefen wir volle 24 Stunden ohne Unterbrechung. Die Essensrationen wurden auf das kleinste Quantum beschränkt, da wir nicht arbeiteten, bedurften wir auch nicht so vieler Nahrung.“

„Für die Arktis braucht man Geld, Zeit und Geduld“

An diesen Satz des Arktiskenners Gunnar Jensen denken wir 60 Stunden später. Draußen ist es trist, aber windstill. Werner schippt aus der Zeltecke Eis in den Kochtopf – die lebenswichtigen Handgriffe sind längst Routine. Als wir uns in der Früh in die gefrorenen Schalen der Plastikbergschuhe quälen, wird uns die Realität des Wortes „Morgengrauen“ bewusst.

Wieder die Monotonie des Gehens. Enervierend langsam gehen die 70-Minuten-Etappen vorbei. Stupide zieht jeder, keucht. Das ist das wirklich Grausame an dieser Tour. Man versucht, sich an etwas zu erinnern und „kaut“ es durch: ein geschäftliches Problem, einen Film, ein Buch, eine Bergtour, ein Liebesabenteuer. Und Walter erzählt, dass er einen Roman entworfen hat: „Die Gliederung steht schon.“ Ich vollziehe eine Vier-Wochen-Expedition vor zwei Jahren in allen Details nach. Als ich auf die Uhr schaue, sind gerade fünfzehn Minuten vergangen. Gerhard behauptet, an gar nichts zu denken. Ich singe: „Stumpfsinn, Stumpfsinn, du mein Vergnügen.“ Werner stichelt: „Du ersetzt ein Radio.“

Trotzdem ist Grönland für uns wie eine Offenbarung: Wir finden zu uns selbst, das Leben reduziert sich auf die heiße Tasse Mineraldrink, den warmen, trockenen Schlafsack, die Sicherheit des sturmfesten Zeltes – und unsere Freundschaft!

Die Tage vergehen im Gleichklang und werden zur Normalität. Das fast stündlich wechselnde Wetter gehört dazu. Ungeduldig suchen wir am Horizont nach etwas anderem als Schnee und Wolken.

Kontrastprogramm im Eis: Dem Schneesturm folgt unerwartet ein Hitzeschub. Doch während in der Sonne die Temperatur auf plus 20 Grad hochjagt, herrscht im Schatten weiter Frost. An den Südseiten der Schlitten tropft Schmelzwasser, die Nordflanken haben einen Eispanzer. Der Wind schläft ein, und lähmend lastet die Hitze auf uns. Der Schweiß durchtränkt die Faserpelzunterwäsche. Der Schnee wird zum Sumpf. Diese Tour ist vor allem eine Frage der Leidensfähigkeit.

„Sie wollen auf Schnee segeln!“

Bei der nächsten Rast „schießt“ Gerhard die Sonne. So nennt man die Winkelbestimmung über die Schwarzglasscheibe des künstlichen Horizontes mit dem Sextanten. Wir sind irgendwo in Grönlands konturloser Weite. Aber wo? Werner und Gerhard werten die Messungen aus. Vor der Expedition haben wir Alpinisten die Schulbank bei Folkmar Ukena aus dem Ostfriesenland gedrückt. Er, der erfahrene Arktissegler, brachte uns in der komplizierten Kunst der astronomischen Navigation auf Vordermann. Die Feststellung ist beruhigend: „Wir sind da, wo wir sein wollen.“

Danach haben wir Glück. Bald ist der Wind wieder da und weht auch in die richtige Richtung.



Zwei verschieden große Spinnaker hat jeder von uns im Schlitten.

Am Zweieinhalbmeter-Mast blähen sich die bunten Tücher. Im Farbenspiel der Sonne schauen die rostroten Blasen mit den schwarzen Streifen wunderschön aus. Die Schlitten wiegen nur noch halb soviel.

Nansen berichtet über die Skepsis seiner Begleiter, als er den Vorschlag machte, mit Schlitten zu segeln: „Hier stieß ich jedoch auf ziemlich starken Widerspruch, besonders von Seiten der Lappen. Ravna setzte ein ganz jämmerliches Gesicht auf, und Balto schimpfte unbeschreiblich. Nun ja, zum Teufel auch! So verrückte Leute sind mir noch niemals vorgekommen. Sie wollen auf Schnee segeln!'“

„Trimmen!“ Die schweren Benzinkanister und die restlichen Nahrungskits werden auf der Luvseite verstaut. Fauchend fährt der Wind in die zum Bersten gespannten Tücher. Nansen hatte da mehr Probleme: „Wir ziehen an und machen unser Fahrzeug flott. Kaum aber ist es losgekommen, als der Wind es uns auf die Hacken treibt, und wir zu Boden stürzen.“

Sanft rucken unsere Schlitten an, wenn wir uns ein wenig in die Zuggeschirre legen. Der Schritt wird unwillkürlich schneller. Ab und zu gibt ein Schlitten dem Winddruck nach und kippt. Wir pieken die Segel eine „Etage“ tiefer ein. Trotzdem loggen wir unser bestes Etmal: 27 Kilometer an einem Tag.

„Land in Sicht!“

Heute hat Gerhard einen Vogel gesehen. Kommen wir dem Eisrand näher, oder wurde der Schneesperling nur vom Winde verweht?

Ich entdecke die Berge als erster und schreie meine Begeisterung heraus. Nach 24 Tagen weißem Horizont endlich winzige schwarze Punkte, die Stunden später zum atemberaubenden Panorama werden. Die denkbar trostlosen Randgebirge der Westküste liegen greifbar nahe. Aber es ist Land! Unsere Stimmung klettert in die Gegend von Euphorie. Die Eiskappe senkt sich, scheint leicht nach unten zu fallen. Gletschersümpfe umgehen wir in großen Bögen.

Dann sind die Spalten da. Erst kleine Risse, dann immer breitere Furchen, schließlich tiefe Schluchten. Zu den Hüftgurten der Zuggeschirre legen wir Schenkelschlingen und Brustgurte an, holen das 46 Meter lange Zehn-Millimeter-Seil aus der Schlittenwanne und seilen uns an.



Der Eiertanz mit Ski und Schlitten über Spalten beginnt genauso wie Nansen es beschrieb.

„Wir setzten unsere Wanderung fort und kamen nun in das unebenste und unwegsamste Terrain, das uns bis dahin vorgekommen war … Eiswände, von denen die eine immer schärfer und unzugänglicher war als die andere, erstreckten sich nach allen Richtungen hin, unterbrochen von tiefen Schluchten, die häufig Wasser enthielten, über dem eine dünne Eisschicht lag, durch welche man hindurchbrach.“

„Wir müssen die Schlitten hier lassen“, schlage ich vor. Vorwurfsvoll sind die Blicke der Freunde, der Ernstfall ist da. Es steht drei gegen eins. „Das Gelände wird immer brutaler, mit dem Gepäck kommen wir hier niemals heil 'raus“, halte ich dagegen. Dreistimmig einstimmig gegen mich. „Es bleibt dabei, die Schlitten müssen mit.“

Ich führe, wie es meine Aufgabe ist, suche taxierend nach einem Halt auf der anderen Seite der Schlucht, die ich zuvor nicht zu überwinden wagte. Dann setze ich vorsichtig einen Ski auf die unberechenbare Decke aus Eis und Schnee. Nur eines gilt: die Schwäche vergessen und die Angst in Stücke schlagen. Müde verfolgen die drei an der Spaltenkante die riskanten Manöver. Es geht, aber es geht nur noch meterweise vorwärts. Gefangen im Labyrinth aus Eis – es ist, als wolle eine Ameisenkolonne den Aletsch-Gletscher bezwingen. Das Spalteninferno ist vollkommen, und es ist schlimmer als erwartet. Das dänische Stück Hochglanzpapier mit der Registrier-Nummer 870078 hat mehr verschwiegen, als es zeigt – ein Luftfoto ist keine Alpinkarte. Meine Augen sind um Schrittlängen voraus und tasten die Schneebrücken ab. Keuchend zerren wir die Schlitten durch den Bruch, ziehen sie durch reißende Schmelzwasserbäche, umgehen die Gletschersümpfe und großen Seen, taumeln durch diesen Irrsinn aus häusergroßen, aufgeworfenen Eisblöcken. Pit Schubert, „Papst“ in Sachen alpiner Sicherheit beim Alpenverein, hatte auf meine Frage nach dem Risiko eines Spaltensturzes mit Schlitten aufgegeben: „Da gibt es keine Lehrmeinung: Ihr dürft halt nicht reinfallen.“

Die filigranen Zuggestänge der Schlitten halten den Querbelastungen im rauen Gelände nicht stand. Das Titan bricht. Abends benutzen wir die Bruchstücke, um unsere Zelte festzumachen. Werner philosophiert über „die teuersten Heringe der Welt.“

Landfall

Seit 26 Tagen sind wir schon im Eis. Auch Werner sieht nun die Gefahr: „Wir werden immer müder, immer leichtsinniger.“ Am dritten Tag in der Spaltenzone fällt die Entscheidung: Nur was zum Überleben unverzichtbar ist gehört in die Rucksäcke – Zelte, Seile, Haken, die restliche Verpflegung. Alles andere bleibt zurück, wir werden versuchen, es später mit dem Hubschrauber bergen: die Kameras, auch die schon belichteten Filme, der wertvolle Sextant, die Tagebücher und – nach heftiger Diskussion – auch Walters 2000 Euro teure Geliebte, die Büchse. Und die Skier, die hier im aperen Eis keine Erleichterung mehr bringen.

Walter hat Pech. Er, der leichteste, bricht zweimal hinter mir in Schneebrücken ein. Seine Beine sind plötzlich verschwunden. Das Seil, das uns verbindet, wird zum Lebensretter. Hunderte solcher Übergänge in einer Mondlandschaft aus Eis müssen wir überwinden. Niemals in meiner Laufbahn als Alpinist musste ich durch ein solches Eischaos. Die innerlichen Zweifel, die seelischen Belastungen, werden lauter: „Wie kommen wir an Land? Und wo?“ Der Bruch wälzt sich bis hin zu den Bergen. Alle paar Meter wartet eine Spalte, gelegentlich auch eine Eisschlucht. Oft gehen wir dort Hunderte Meter am Rand entlang, um eine winzige Brücke zu finden und ein paar Meter Horizontaldistanz Vorwärts zu kommen.

Der vierte Tag im Bruch bringt die Wende: Am Horizont taucht über den Eisschluchten schmutzigbrauner Fels auf. Am Ende der Masse aus gefrorenem Wasser tut sich plötzlich ein See auf, von dem auch die Karte nichts weiß, und stellt sich uns Heimkehrern in den Weg: Zwei Gletscherseen sind zusammengewachsen. Wieder klettern wir durch heikles Gelände. Und wieder überkommt uns das Gefühl der Ameisenkleinheit, dem wir wütend begegnen: „Vorwärts!“ Kurz bevor die Nacht hereinbricht, wird das Eis schmutziggrau. Noch 100 Meter – noch zehn – noch drei Schritte … Dann berühren unsere Sohlen Fels. Steine! Land! Berge! Gewaltige primitive Formen von ungeheurer Frische. Und Leben, das atmet. Wir umarmen uns mit feuchten Augen: Die harten Männer sind weich geworden. Dieses Bild wird für immer in meinen Augen stehen bleiben! Der Steinmann, den wir aufschichten, visualisiert einen hundertjährigen Erfolg. An diesem Punkt, dem Austmannadjern, betrat auch Fridtjof Nansen festen Boden.



Spärlich zeigen sich das erste Grün, die ersten Blumen.

Und mit ihnen wächst die Gewissheit: „Wir werden es schaffen!“ Doch noch sind es sechs Tage durchs Gebirge bis zum ersten Dorf.

Nansen erzählt über diesen historischen Moment: „Eine wahre Wonne durchrieselte uns, als wir mit unseren Füßen das Heidekraut berührten und uns der würzige Duft von Gras und Moos in die Nase stieg. Hinter uns lag das Inlandeis, sich in einer langen, kalten und grauen Abschrägung nach dem See senkend. Wir aber weideten uns in dem Anblick des bloßen Landes. Durch das Tal hindurch erblickten wir einen Hügelrücken nach dem anderen, die sich wie Woge auf Woge am Horizont erhoben. Hier mussten wir weiterziehen; dieser Weg führte uns an den Fjord.“

Am Abend erleben wir vor dem Zelt bunten Arktis-Zauber: Zarte Vorhänge aus gelbem und grünem Polarlicht wehen über einen dunklen Nachthimmel. Eine Fliege umsummt mich und ist ängstlich bemüht, nicht vom Wind davongetragen zu werden, der kühl von der Eiskappe herunter streicht. Eine erbärmliche Fliege, aber es ist ein Lebewesen!

Der 32. Tag. Es schüttet, wie es nur in Grönland schütten kann. Dampfend stehen wir am Meer. Die Ebbe hat Sandbänke im Fjord freigelegt, Regentropfen ziehen kreisrunde Ringe auf dem Salzwasser. Unsere Schlafsäcke sind nur noch Klumpen. Tags zuvor im Austmannadalen schien die Sonne, doch auch da waren wir nass. Das strudelnde Wildwasser des tobenden Gletscherflusses hatte uns an die Grenze gebracht. Gerhard und Werner behielten im gischtenden Eiswasser wenigstens den Kopf trocken. Ich, der voraus watete, trat in ein Loch und wurde vom Wildwasser mitgerissen. Der Schlag des Unterwasserfelsens ließ die Blutgefäße an meinem Unterschenkel platzen – in Sekunden bildete sich eine kinderkopfgroße, blaue Geschwulst. Walter nahm das gelassener: „Wozu bin ich Rettungsschwimmer?“ Sprach's und stürzte sich in die Fluten. Der Rucksack tanzte wie eine Rettungsinsel neben ihm auf den Wellen.

Das hier ist Nansens Teltplads. Bis hierher hat der kühne Norweger mit seinen fünf Begleitern 42 Tage und Nächte gebraucht. Wir vier Bayern haben in den verwehten Skispuren Nansens Grönland durchquert und waren zehn Tage schneller: exakt so, wie geplant. Ein Rekord, der unwichtig ist in der Retrospektive, jedoch lebenswichtig ist für unsere Essenkalkulation. Die Idee, der Traum, hat sich erfüllt und ist jetzt schon Vergangenheit. Nansen berichtet über diesen Platz, der seitdem seinen Namen trägt: „… befanden wir uns auf gleicher Höhe mit dem Meeresspiegel. Eine Schwierigkeit, die von vielen Sachverständigen, ja von der großen Mehrzahl als unüberwindlich betrachtet wurde, war jetzt siegreich überwunden.“

„Wir machen keinen Expeditionsvertrag. Wir wollen als Freunde gehen und als Freunde ankommen“, formulierte ich unseren Anspruch vor dem Start. Auch dieses Ziel – ein wesentliches – ist erreicht. Die Expeditionen der letzten hundert Jahre, die vor uns gingen, waren oft zerstritten und wurden uns zum abschreckenden Beispiel.



Hunderte von wilden Renen haben wir aufgescheucht.

In Kapisigdlit, dem 130-Seelen-Dorf, warten nach einem Marsch durch die Tundra zwei Tage später schon Daniel Lukassen, der Ortsvorsteher, und seine Frau Anne, die ersten Menschen nach 34 Tagen. Draußen im Fjord schwimmen Eisberge.



„Keschute!“ Das ist ein grönländisches „Prost“.

Das erste Bier nach fünf Wochen Schneewasser! Wie viel – oder wie wenig? – braucht der Mensch, um glücklich zu sein? Jeder von uns verschlingt ein halbes Dutzend Rentiersteaks. Die Sauce Bearnaise wird löffeldick darüber gestrichen. Die rationierte Pulvernahrung hat gerade bis zum letzten Tag gereicht.

Über 500 Kilometer liegen hinter uns, vom Meer zum Meer. Daniel lobt: „You have all reason to be proud.“ Ein bisschen sind wir das auch. Was übrig bleibt, ist die Erinnerung an den Zauber des Inlandeises, die wallenden Schleier des Nordlichts, die Sonne, das endlose Weiß, das Fjell, das große Schweigen und die Harmonie unserer Freundschaft. Wir haben mit zeitgemäßer Technik, aber „by fair means“, das nachvollzogen, was uns Nansen vor 100 Jahren vorgemacht hat. Unsere Idee war es, an das kulturelle Erbe Fridtjof Nansens zu erinnern. Wir denken an die Worte des kompetenten Dänen Gunnar Jensen: „Eure Chancen bei einer Inlandeisdurchquerung liegen unter 50 Prozent. In den letzten Jahren gab es bei sieben Expeditionen sieben Tote und drei Rettungsaktionen.“

„Eigentlich war es wie eine Kur“, flachsen wir, „viel Schlaf, täglich Bewegung, gesundes Essen, kaum Alkohol … Und da war doch noch etwas?“ Walter zieht Bilanz: „Für mich hat es sich gelohnt, ich habe im Schafkopf gewonnen.“ Gerhard resümiert: „Die Tage auf dem Eis haben mich reich gemacht.“ Die erste Nacht im Bett, Werner ist enttäuscht: „Auf der Isomatte im Zelt hab' ich besser geschlafen.“ Ich bin am Ende aller Ziele und habe eine Idee verwirklicht: „Mein Respekt vor Nansen ist noch größer geworden. Er ist es, der zu bewundern ist.“

Wir denken an das Schlusswort des Norwegers in seinem Buch: „Als wir uns dem Hafen von Kristiania näherten und den Festungswall und alle Brücken ganz schwarz von Menschen sahen, sagte Dietrichson: „Ist es nicht hübsch mit all diesen Menschen, Ravna?“ Und der einfache Lappe antwortete: „Ja, sehr hübsch – wenn es nur alles Rene wären!'“

  • Wir verlegten die „Vertikale der Berge in die Horizontale des grönländischen Eises“, wie es der 1. Vorsitzende des Deutschen Alpenvereins, Dr. Fritz März, treffend formulierte. Die bergsteigerischen Ideale jedoch nahmen wir von zu Hause mit und versuchten, sie ins Eis zu transferieren. Unsere Idee war es nicht nur, eine Inlandeisdurchquerung zu machen. Seit Nansen hat es nicht weniger als 50 Traversierungen auf verschiedensten Routen quer durch diese 3000 Kilometer lange Insel gegeben. Im Schnitt alle zwei Jahre eine. Viele mit Motorkraft oder Schlittenhunden. Jede Durchquerung aus eigener Kraft ist ein brutales Unternehmen, eine physische und psychische Hochleistung. Mehrere Expeditionen, darunter auch eine deutsche, waren im Jubiläumsjahr auf den verschiedensten Routen unterwegs. Einige hatten sich den Namen Nansen auf die Fahnen geschrieben. Uns aber war vor allem die historische Komponente wichtig und damit Nansens Route und der Verzicht auf Mittel, die er vor hundert Jahren noch nicht nutzen konnte.
  • Als Jahreszeit wurde – wie bei Nansen – der ungünstige Sommer gewählt. Die beste Expeditionszeit ist das Frühjahr, da dann die Spaltenzonen noch verschneit sind.
  • Navigiert wurde – wie bei Nansen – mit einem Sextanten. Satellitennavigation ist dagegen auf dem Inlandeis üblich geworden: Schalter umlegen und wissen, wo man ist.
  • Wir konnten – wie Nansen – auf der Originalroute keinen Zivilisationskontakt haben. Expeditionen nehmen heute vermehrt nördlichere Wege. Auf diesen „Normalwegen“ liegen mitten im Eis Frühwarnstationen der Amerikaner.
  • Wir gingen Nansens Route vom Startplatz an der Ostküste bis zur Ankunft im Ameragdla-Fjord exakt nach und waren damit „die ersten Deutschen …“, wie unwichtig das auch ist.
  • Der Hubschrauber ist in Grönland oftmals die einzige Möglichkeit, an den Startplatz einer Eiskappenüberquerung zu gelangen. Expeditionen nutzen dies, und lassen sich oberhalb der wildesten Brüche absetzen. Wir aber starteten dort, wo auch Nansen losging: Wir stiegen sogar mit den Schlitten zum Meer ab.



Nansens Grönlanddurchquerung ist ein kulturelles Erbe, an das wir erinnern wollen, weil es dies zu bewahren gilt


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