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MICHAEL VOGELEY

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In eisige Tiefen

Eishöhlen in Grönland. Von Michael Vogeley für AlpOnline

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Die „Expedition Inlandsis“ war ein einzigartiges Abenteuer, das der Bergsteiger und Arktisspezialist Michael Vogeley mit zwölf französischen Alpinisten und Höhlenforschern am Beginn des Winters als erste im grönländischen Eis wagten.

Gletschermühlen, „moulins“, werden Löcher im Eis genannt, in deren Abgründe sich oberirdische Schmelzwasserflüsse, „bedières“, stürzen. In diese Strudellöcher vorzudringen, war die Aufgabe der Expedition Inlandsis. Sie wurde von der Europäischen Gemeinschaft unterstützt, die das Patronat für diese Pionierexpedition übernommen hatte.

Grönland ist fast vollständig von einer Eisdecke überzogen, deren Schichten bis 10.000 Jahre alt sind: Eine Herausforderung für Klimawissenschaftler – und für Abenteurer . Im Sommer brausen Flüsse über das Eis und stürzen in große „moulins“. Die Expedition folgte dem Weg des Wassers und drang in eine unbekannte Welt vor. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit. Die Eisschichten haben die Klimageschichte konserviert.

„„Polarwolf“ Michael Vogeley wurde eingeladen, seine Arktiserfahrung einzubringen. Die „alpine Seele“ war Jean-Marc Boivin, der einige Monate später tödlich mit dem Gleitschirm verunglückte.

Zeitreise ins Eis

Auf harten Kieseln kuschele ich mich in meinen Schlafsack und fröstele. Vom Inlandeis weht ein kalter Wind, kriecht durch Nähte und Reißverschlüsse der Daunenhülle und trägt die Wärme vom Körper fort. Der Winter bricht schon an: Ende August, 500 Kilometer nördlich des Polarkreises nahe der unwirtlichen Westküste Grönlands. Wir sind 80 Kilometer mit unseren schweren Schlauchbooten von Iluissat aus hierher gefahren.

Drüben, bei dem dunklen Loch im Eis, wo der Gletscher sich im Moränenschutt verliert, kracht es. Tonnenschwere Eisstücke stürzen donnernd von der Decke des morbiden Gebildes und bringen das Schmelzwasser des tosenden Wildflusses, der aus dem Eis strömt, zum Gischten. Morgen früh wollen wir in dieses Gletschertor hinein, werden dem Fluss so weit wie möglich folgen und einen Traum verwirklichen. Oder einen Alptraum? Furcht will durchlitten sein – ich habe eine unerwartete Verspannung im Halsmuskel. Diese Höhle wird den nächsten Tag bestimmen. Vielleicht auch unser Leben?

Zwölf Männer unterschiedlicher Nationalität – Bergsteiger, Höhlenforscher, Abenteurer, Wissenschaftler – sind zu einer Gruppe Gleichgesinnter zusammengeschmiedet und haben nur einen Gedanken: „Wir wollen hinein in diesen gefährlichen Bauch aus Eis.“ Das Ziel: Die eisige Unterwelt erforschen und Eisproben aus der Tiefe mitbringen, wo die Klimageschichte der Erde konserviert ist.

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Oft war ich in der Arktis. Wer einmal in diesen hohen Breiten war, kehrt immer wieder in den hohen Norden zurück. Steine fallen am nächsten Morgen auf das Gletschertor, und kleine Eisbrocken kippen von dem labilen Gebilde. Das Loch ist mit frischen Eisblöcken verrammelt. Die gefährliche, filigrane Galerie ist herabgebrochen und liegt als ein fünf Meter hoher Haufen aus Eiswürfeln vor dem Dunkel des Eingangs.

Jean-Claude Dobrilla, professioneller Höhlenforscher, Jean-Marc Boivin, der Weltklassealpinist, und Janot Lamberton, Expeditionsleiter und Pionier der Gletscherhöhlenforschung, machen sich startklar und schlüpfen in ihre dünnen gelben Gummianzüge, die den Körper bis zur Brust Trockenhalten sollen, und die wir „Präservative de l'eau“ getauft haben. Ein kubikmetergroßes Eisstück bricht von der Decke ab und zerschellt im Sonnenlicht. Es kracht und dröhnt. Jean-Marc witzelt zwar, aber sehr wohl ist ihm nicht dabei.

Der Plan: Die drei sollen so weit wie möglich in die Höhle eindringen und die Verhältnisse erkunden. Dann wollen wir in einzelnen Gruppen – nacheinander, um damit das Risiko zu vermindern – in die Höhle vorstoßen.

45 Minuten sind vergangen, eine endlose Dreiviertelstunde! Serge Aviotte, der Höhlenführer aus Südfrankreich, hängt am Funkgerät: „Jean-Marc und Janot, bitte kommen. Alles o.k.?“ Keine Antwort. „Hallo, ca va, Jean-Claude?“ Schweigen im Äther. Ist die Höhle zusammengebrochen, wurden die drei vom Eis erschlagen?

Doch dann klettern sie durchnässt ans Licht und berichten: „„200 Meter sind wir eingedrungen. Wir hörten euch, konnten jedoch nicht funken, da uns das tobende Wasser oft bis zur Brust stand. Janot ist zweimal ausgerutscht, einmal hat ihn Jean-Claude noch fassen können, kurz bevor ihn die Strömung mitgerissen hätte.“ Es müssen bisher nie gesehene Motive gewesen sein: Karbidflammen-beleuchtete Helme, die gerade noch aus dem reißenden Wasser ragten. Nun wissen wir, dass ein weiteres Vordringen zwar gefährlich, aber möglich ist.

Stunden später fröstelt es mich trotz der Sonne. Serge hat Funkkontakt bekommen und berichtet, dass Janot und Jean-Marc in einem erneuten Versuch bei Tagesanbruch etwa 1.200 Meter vorgestoßen sind. Die Nachtkälte hat den Schmelzwasserstrom verringert. Nun stehen sie am linken von zwei Zuflüssen, die den Hauptstrom nähren. Ein weiteres Vorwärtskommen ist nicht möglich. Der Gang wird schmaler, die Decke senkt sich bis zum strömenden Wasser. Trotzdem: So tief ist noch kein Mensch in einen Gletscher eingedrungen! Nach einer endlosen Stunde klettern die zwei Gestalten über die weißen, scharfkantigen Blöcke zurück und waten durch den reißenden Fluss.

Jetzt bin ich dran. Ich stülpe die Gummihosen wie ein Riesenkondom über die Unterwäsche. Darüber zerre ich zusätzlich den lila wasserfesten Overall, ziehe Strümpfe über das Gelb der Füßlinge und schlüpfe mit Mühe in die bockigen Schalen der Bergschuhe. Dann klettern die Fotografen Philippe Boursellier und Arnaud de Wildenberg über scharfkantige Eisbrocken, die sich am Gletschermund auftürmen. Ich eile voraus. Der Wissenschaftler Yann Druet folgt. Er ist besonders daran interessiert, in den Gletscher zu gelangen, um die Morphologie des Eises zu studieren.

Halbdunkel umfängt uns. Trotzdem sind die abgesplitterten, halbmondförmigen drohenden Eissicheln – jede viele Tonnen schwer – zu erkennen, die in labilem Gleichgewicht an der Decke hängen. Sie sind wie Granaten kurz vor der Explosion. Jetzt heißt es Nerven behalten. Zehn, vielleicht 15 Meter mag die Halle an Höhe haben. Wie ein Bogen spannt sich ein grüner Eiswulst hinüber zum anderen Ufer des tobenden Flusses. Wir sind dieser Guillotine hilflos ausgeliefert. Das Rauschen des Wassers ist zu einem Dröhnen geworden. Wir bewegen uns auf Fels, also am Grund des Gletschers, vorwärts, klettern über Eisblöcke, waten hüfttief im reißenden Bach und brechen immer wieder in den Eisbrei ein, der tückisch und unzuverlässig ruhigere Stellen des rauschenden Wildwassers bedeckt und Sicherheit vortäuscht. Eisbrocken wirbeln in der Strömung vorbei. Die Karbidlampen unserer Helme spenden Licht. Atemlos stehen wir in einem weiß-grünen Dom: eine Welt aus krankem Eis, ständig bereit, dem Druck des Gletschers nachzugeben. Über uns liegen 500 Meter gefrorenes Wasser. Man geht nicht jeden Tag unter Millionen Tonnen Eis spazieren.

Hüfttief waten wir weiter durchs Eiswasser und klettern über Eis- und Felsbrocken. Ich bin hellwach. Ist das Angst? Alle Sinne sind gespannt, die Bewegungen jedoch kontrolliert und ruhig. Innerlich bin ich aufgewühlt und wie ein Tier auf dem Sprung.

Überlebt

Yann ist hinter eine hauchdünne Eisgalerie gekrochen, durch die das Licht seiner dominierend hellen Helmlampe unwirklich schimmert. Ihn stört unser Treiben überhaupt nicht. Er, der Wissenschaftler, ist vollkommen von dieser Umgebung gefangen, pickelt am Eis herum, misst die Temperatur, entnimmt Proben und macht sich Notizen. Fünf Zentimeter lange Eiskristalle, durch den enormen Druck zu höchster Vollendung geformt, lassen ihn in Verzückung geraten. Er ist jenseits von Zeit und Raum.

Dies ist ein schauriger Ort. Jede Sekunde länger hier unten erhöht die Gefahr, erschlagen zu werden. Arnaud und Philippe fotografieren, um diese nie gesehene Welt zu dokumentieren. Ich habe bewundernd und staunend diesen grausig-schönen Ort erlebt und noch nie davon gehört, dass man in Gletschertore eingedrungen ist.

Die wichtigen Eisproben sind gesammelt. Doch noch müssen wir überleben und durch dieses unberechenbare Chaos zurück. Die Zähne knirschen und das gesamte Gebiss tut weh, weil man vor Anspannung draufbeißt.

Mit fliegendem Atem hetzen wir über die glatten Eisbrocken zurück, waten durch den Strom, stecken wieder im Eisbrei und klettern keuchend über Felsbrocken. Die Angst setzt Adrenalin frei und verleiht uns ungeahnte Kräfte. Dann leuchtet fahl das Tageslicht. Hoch droben schimmert schwach die domartige Wölbung des Eingangs. †über eine frisch herabgefallene Eismauer krieche ich in die grelle Helligkeit. Lethargisch lasse ich mich in den Kies fallen, satt und zufrieden. Vielleicht brauche ich die ausgeschütteten Stresshormone wie andere irgendwelche Drogen. Es gibt darüber entsprechende Theorien.

Russisches Roulett

Janot hebt die rechte Hand, setzt den ausgestreckten Zeigefinger an die Schläfe, streckt den Daumen nach oben und sagt laut und für alle Nationen verständlich: „Tick, tick, tick … peng.“ Wir lachen, und unser Blutdruck nimmt wieder Normalwerte an. Es war Russisches Roulett, obwohl es bei unserem mörderischen Spiel nicht nur eine, sondern drei Kugeln auf sechs Revolverkammern gab.

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Jean-Claude macht sich fertig; auch Jean-Philippe Astruc, der junge Arzt aus Aix-en-Provence, und Serge. Sie wollen nach uns hinein, so tief wie möglich vordringen und zusätzlich mit einem roten Seil Länge und Lage des drohenden Schlundes vermessen. Sie verschwinden im Dunkel … Wenig später hetzen sie über die Eisblöcke zurück. Jean-Philippe ist kreidebleich. Exakt 516 Meter vom Eingang war ein Riesenstück der Decke donnernd herabgebrochen und zerschellt. Sie wechselten hastig zum anderen Ufer, um dem Bruch auszuweichen. Sekunden später krachte es wieder. Der Platz, an dem sie gerade noch gestanden waren, ist mit tonnenschweren Eistrümmern übersät. Sie hatten Glück im Unglück und verließen blitzartig die Stätte ihrer Wiedergeburt. Tick, tick, tick … peng. Wir taufen diese Stelle „Die tanzenden Klaviere“.

Der Namensvorschlag Yanns für die erforschte Höhle wird von allen angenommen: Tupilaq cave – auf grönländisch: Tupilaq sulloq. Die höhlenartigen Eingänge der Igloos nennt man „Sulloq“. Tupilaq sind von den Inuit geschnitzte Fratzen, die böse Geiste„ vertreiben sollen, Kobolde, die ihr Unwesen treiben. Manchmal werfen sie auch mit Eisbrocken.

Die „Moulin“ Anorip putua

Tage später. Ein Helikopter hat uns auf dem unwirtlichen Inlandeis abgesetzt. Wir stehen auf einem Hunderte von Metern dicken Gletscher, die Zivilisation ist unerreichbar weit weg. Es gibt keine schlimmere Wüste als die Eiskappe – ich kenne sie.

Wir sind auf einem anderen Planeten, ohne Vegetation, ohne Leben. Im Dunst erkennen wir Gletscherflüsse, die in der Kälte nicht aktiv sind. Wenn wir eine Chance auf eine „Mulin“ haben, dann nur in den vom Schmelzwasser zerschrundenen Flusssystemen dieses gefrorenen Kontinents. „Im letzten Jahr sind dort, wo ihr hinwollt, fünf Italiener erfroren“, machte uns der Chef des Flughafens von Ilulissat Mut.

Ville de Caen haben wir den Graben im Eis, ein Flussbett, getauft. Caen ist Yanns Heimatstadt. Die „bedière“ hat die Kontur einer U-förmigen Schlucht – fünf bis sieben Meter tief und zehn bis zwölf Meter breit. Was müssen das für Wassermassen gewesen sein, die sie ausfüllten?

Zaghaft wird das Eis im grönländischen Sommer für nur zwei Monate von den Strahlen der Sonne fast rund um die Uhr erwärmt und zum Schmelzen gebracht. Rinnsale, Bächlein, Flüsse und später Ströme entstehen, waschen das Eis aus und schlängeln sich viele Kilometer über das Eis, bevor sie sich vielleicht in eine Spalte stürzen. Das Gletscherwasser strudelt und höhlt den senkrechten Abgrund aus: eine „„Moulin“ ist entstanden. Der Winter stoppt dann den Wasserfluss.

Wir folgen dem Graben von den Zelten aus bis zu seinem Ende. Ein glitzerndes Tor öffnet sich. Das Eis an den Wänden ist wellenförmig ausgewaschen wie die schönen Falten eines Gewandes – eine perfekte Architektur. Wir stehen am Eingang einer vor zwei, drei Jahren entstandenen Gletschermühle, die durch Schmelzwasser größer und größer geworden ist. Oben ist der Schacht von einer Schneebrücke verschlossen, die der Wind gebildet hat. Das Tageslicht dringt nur gefiltert ein.

Die erste Stufe ist noch leicht, am Seil hangeln wir uns an der Wand hinunter. Die zweite Passage ist ein senkrechter Acht-Meter-Eisfall über einem See, den wir abseilend überwinden. Die Steigeisen kratzen auf dem hartgefrorenen Schmelzwasserbelag.

„Forschung im Eis erschließt eine neue Domäne.“ Yanns Aussage wird mir hier unten besonders deutlich. Der Abstieg in die Tiefe eines Gletschers ist mehr als ein Abenteuer. Es ist eine Erkundung des Rohzustandes unserer Erde, mit all seinem Schaudern, Fragen und dem phantastischen Reiz, den die Entdeckung einer neuen Welt vermittelt. Der Wissenschaft waren bisher aufgrund der extremen Abgeschiedenheit und der rauen klimatischen Bedingungen nur Oberflächenstudien oder künstliche Bohrungen möglich.

„Der Gletscher muss sich in jüngster Zeit verschoben und gehoben haben“, urteilen wir anhand der senkrechten Schmelzwasserlinien im Eis. Die Höhle wird nicht mehr lange existieren, der Gletscher schiebt sich über ein unterirdisches Hindernis. Wird die Höhle zerbrechen, wenn wir tief drinnen sind? Oder wird sich der Eingang oben schließen? Werden wir darin verhungern oder erschlagen werden? Fragen über Fragen, die nicht beantwortet werden können. Das Risiko ist nicht zu berechnen.

Wir sind etwa 50 Meter tief eingedrungen und klettern zurück, der Tag neigt sich dem Ende zu. Vergessen sind die heiklen Querungen, die eisigen Seen, das dünne Seil und die wippenden Eisschrauben, an denen unser Leben hing. Zurück bleibt der Eindruck einer unwirklichen Welt, die mir bislang verborgen geblieben ist.

123 Meter: Tiefenweltrekord

Wir frühstücken im flatternden Messezelt, da knarrt das Funkgerät. Mitten durchs Eis erreicht uns aus der Unterwelt ein Funkspruch von Janot und Jean-Marc: „Wir sind am Endpunkt.“ Nach einer langen Abseilfahrt haben wir den Grund der „moulin“ erreicht. Ein Eis-Siphon verschließt den Weiterweg, da ist nichts zu machen. „Aber“, jubelt Janot, „wir sind 123 Meter tief vorgedrungen!“ Das ist wieder ein Rekord.

Zwei Stunden später stehen wir über einem See und sind an dem steil nach unten führenden Seil festgebunden. Es verliert sich hinter einer Ecke im Dunkel. Mit dem Pickel hacke ich den Rand auf, um den Wasserspiegel zu senken. Das herabstürzende Eiswasser verursacht einen Höllenlärm, und ich wundere mich, dass es bei dieser Kälte noch nicht gefroren ist. Ich picke die kurze Sicherungsleine ein, fixiere sie am Brustgeschirr und lasse mich in sausender Fahrt am dicken Strick um eine Ecke tragen. Der Aufprall an der Eiswand ist erträglich. Heikel stehen wir zu dritt auf einem kleinen Podest über einem weiteren See. Wir haben uns an zwei Haken gesichert.

Die nächste Abseilstelle ist zehn Meter hoch, dann hängt der Strick über einem dritten See und ist drüben an einer Eisschraube fixiert. Jean-Marc, der überragende Eiskletterer, hat diese schwierige Stelle als erster geschafft und uns damit den Weg nach unten freigemacht. Die letzten Meter, waagerecht über dem Wasser hängend – den Hintern nur wenige Zentimeter über dem eiskalten Nass – ziehe ich mich hinüber zum anderen Ufer.

Jean-Philippe kämpft, seine Abseilbremse ist blockiert. Mit dem Rücken nach unten hängt er am schwankenden Seil, der schwere Rucksack zieht ihn erbarmungslos in die Horizontale. Wir geben Tipps, werfen eine Reepschnur zu und helfen, wo es geht. Mit letzter Kraft befreit sich Jean-Philippe vom Ballast, klinkt einen Karabiner in das Seil, hängt den Sack daran, und mit der Hilfsleine ziehen wir die Last aufs Trockene. So befreit, schafft er es und hangelt sich zu uns. Die Erschöpfung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Unter der Gletscherbräune ist er ganz grau, und sein Atem fliegt. Nur zwei Meter waren wir von ihm getrennt, 200 endlose Zentimeter, bei denen man nicht helfen kann! Zwischen uns lag der tiefe See.

Wir tauchen ein in diesen Bauch aus Eis, dem wir den Namen „Kristall-Galerie“ geben, und stehen bald darauf tief drinnen über einem finsteren Loch, wo es nicht mehr weiterzugehen scheint. Zwei Seile hängen in die Schwärze, vier wacklige Eishaken vermitteln keine Sicherheit: Das Eis, in das sie geschlagen wurden, zieht Sprünge. Die Sicherungen wippen bei jedem Blockieren von Jean-Marcs Abseilbremse. Unten angekommen, brüllt er zu uns herauf: „Libre!“ Das Seil ist frei. Ein tausendfältiges Echo macht uns beinahe taub. Arnaud und Janot machen sich bereit.

So tief ins Eis wie nie ein Mensch zuvor

Endlich ist Platz. Ich bin mit Philippe Boursellier allein. Nun kann ich nach unten sehen. Zwei Karbidlampen werden in der Schwärze immer kleiner. 73 Meter ist der Schacht tief! Das ist, als wenn man sich innen in einem Kirchturm abseilt. Ein labiler Eisbalkon, vielleicht acht Meter hoch und zwei Meter stark, hängt drohend über dem Schacht. Er ist mit einem Quadratmeter seiner Oberfläche ans Eis gekittet. Wenn der Brocken kippt, hat keiner da unten eine Chance.

Das Seil ist frei. Ich hänge den Strick in die Bremse und beginne den Abstieg. Das gewohnte Abseilen erweckt Vertrautheit. Ungewöhnlich sind die Umgebung und die Dunkelheit. Schwärze signalisiert Gefahr. Der Mensch wurde geboren, um zu sehen und sich festzuhalten. Bei jedem Ruck, wenn das vereiste Seil einige Meter durch die Abseilbremse saust und dann endlich blockiert, wippt der Körper wie ein Jo-Jo auf und nieder und wird zum Perpendikel in diesem eisigen Glockenturm. Hoffentlich halten die Haken, denke ich. Ich bin auf einer senkrechten Zeitreise in die Vergangenheit unseres Planeten. Das Eis ist unten, am tiefsten Punkt, einige Hundert, vielleicht Tausende Jahre alt – Natur pur. Die Zeit scheint bei dieser Abseilfahrt stehen zu bleiben.

Dann blitzen Lichter auf. Wasser tropft trommelnd auf meinen Overall. Mit dem sich entkrangelnden Seil drehe ich mich über dem Höhlenboden. Drei helle Augen – die Helmlampen der anderen – sind auf mich gerichtet. Noch zehn Meter, noch fünf. Ich beende die längste Abseilfahrt meines Lebens und stehe am tiefsten Punkt. Der Eis-See, der den Weiterweg verschließt, ist nur schwer zu erkennen. Er sieht aus wie eine schlecht gepflegte Schlittschuhbahn und verhindert das weitere Vordringen.

Ich staune über das unwirkliche Licht und die kirchturmhohe Eiswelt. Noch nie habe ich so etwas Schönes gesehen. Jean-Marc sagt: „C'est une cathedrale!“ Es gibt keinen besseren Namen für diesen Dom aus Eis. Zwei Fäden, die Seile, führen ins Leben, ins Licht. Wir sammeln eilig Eisproben, die wir in Plastikflaschen stecken. Sie sollen im Gletscherkundlichen Institut von Grenoble untersucht werden.

Der Weg hinauf ist lang und einsam. Schweiß bricht aus und rinnt trotz der Kälte über die Stirn. Ich strecke das Knie durch, bis die Fäuste mit der Steigklemme das Kinn erreicht haben. Wieder das Knie beugen, Bein durchstrecken, die Schlinge belasten… Die Zeit scheint stehen zu bleiben und der „Himmel“ nicht näher zu kommen. Nur die Lichter unten werden kleiner, dafür auch die Arme schwerer. Wieder prasselt Wasser auf Helm und Overall. Einen Überhang überspreize ich. Dann klebe ich keuchend auf einer kleinen Eiskanzel mitten über dem Abgrund. Unter mir sind 50 Meter kalte Gletscherluft. Vorsichtig schiebe ich die Klemmen aufwärts, immer darauf bedacht, keinen Fehler zu machen und gesichert zu sein.

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Irgendwann klettere ich schwitzend ans Tageslicht. Tief bewegt stapfe ich in der flachen Wintersonne auf meinem viele Meter langen Schatten hinauf zum Lager.

Das Messezelt hallt abends wider von Lachen und Scherzen. Wir sind glücklich. „Expedition Inlandsis“ war ein Erfolg: Alle hatten wir unser Abenteuer, haben zwei Weltrekorde aufgestellt, und die Wissenschaftler bringen genügend „Stoff“ für neue Erkenntnisse mit nach Hause. Wir taufen die Höhle, ihres schneeverwehten Einganges wegen, „Anorip putua“, die „Höhle des Windes“.

Auf der Eiskappe vergessen

Unsere Zelte sind winzige Inseln in einem weißen Meer. „Das Barometer sinkt! Es schneit!“ sagt Arnaud fatalistisch. Tagelang hat es gestürmt. Nun scheint die in Aufruhr geratene Natur in einen Winterschlaf zu versinken. Wir warten seit fünf Tagen auf den Helikopter, der bei diesen schlechten Sichtbedingungen nicht fliegen kann, und stehen an der Schwelle zur Resignation. Ich dränge, die Rucksäcke zu packen und die vier Tagesmärsche nach Ilulissat anzugehen, finde jedoch bei den Franzosen keine Zustimmung. Mein Temperament verträgt es nicht, darauf angewiesen zu sein, dass andere für mich entscheiden. Ich brauche Aktivität und will nicht stumpfsinnig herumsitzen. Die minus 10 Grad Celsius, die wir messen, sind eine Art Hitzerekord. Gestern fiel das Thermometer auf 30 Grad unter Null. Die Sonne verwandelt den Polarsommer in einen einzigen, langen Tag. Immer flacher, kürzer dreht sie sich jetzt, am Beginn des arktischen Winters, um die Polkappe und beleuchtet spärlicher die weiße Wildnis. Die Erde versinkt im Schatten.

Hunger wühlt in unseren Eingeweiden und macht uns schwach. Mittags gibt es für jeden von uns eine Tasse Reis und als Würze Dijon-Senf: das ganze Essen für einen Tag. Es ist eine Gelegenheit, das Spiel des Rationierens auszukosten. An meinem Zelt wächst eine stahlhart modellierte Wächte wie eine Woge im Ozean aus Eis. Im Schlafsack, den ich wegen seiner gefrorenen Schwere „Walross“ taufe, träume ich von einer bayerischen Sommerwiese, esse einen knusprigen Schweinsbraten und habe eine Maß schäumendes Andechser Bier vor mir stehen. Europa liegt weit weg. Dort wachsen Blumen, treiben Früchte. Und dort gibt die Erde dem Menschen alles, was er zum Leben braucht – ein Wunder, das ich hier und jetzt intensiv erfasse.

Eine zerreißende Zeltleine ruft mich wieder in die kalte Gegenwart zurück. Es klingt wie ein Peitschenhieb. Alle schlafen wir in Alarmbereitschaft, angezogen, um schnell rausschlüpfen zu können, wenn das Zelt zerfetzt wird oder der „Helico“ kommt, und lauschen auf das Irrsinnskonzert des Sturms. Wir liegen in den Säcken wie eingerollte Igel, um die Wärme soweit wie möglich zu halten.

Fünf Tage warten, warten, warten. Die Zeit rast, und nichts bewegt sich. Ich weiss genau, wie mein täglicher Spaziergang anfängt und enden wird: Start beim Zelt, waten durch die Eiswogen, zurück über den Gletscher – 50 Meter hin, 50 zurück. Immer das Seil in der Hand, das zu den Zelten führt. Wenn wir uns im White Out verirren, sind wir tot. Arnaud, der mich manchmal begleitet, schreibt voller Demut ins Tagebuch: „„Wir waren wie zwei Schneeflocken im Wind…“

„Hurra, es klart auf!“ brülle ich morgens und treibe damit die Franzosen aus den Schlafsäcken. Die Sonne ist zurück gekehrt. Wir bekommen Kontakt mit der Außenwelt. Über das VHF-Gerät quakt die Nachricht, dass „Er“ bald da sein wird. Wenig später erscheint aus dem Nichts ein dunkler Punkt. In einer Schneewolke setzt der Riesenvogel auf dem ebenen Platz auf, den wir aus dem Eis gehackt haben. Bald werden wir wieder zu Hause sein. Sie wird uns wieder haben, die geschmähte „normale“ Welt!

Der Beat hämmert, Roland ruft übermütig: „Please, the Rolling Stones!“ Der kleine Grönländer traktiert seine Drums und singt ins Mikrofon: „I can't get no satisfaction …“ Wir brüllen begeistert mit. Der Bauch ist voll, und schwerer Rotwein glitzert in den Gläsern. Wir sind wieder bei den „Menschen“. Unsere euphorische Stimmung explodiert in einer Tanzorgie mit den grönländischen Schönen. Die ernsthaften „Expediteure“ hüpfen ausgelassen wie kleine Kinder auf dem Parkett.

Die Expedition war eines der wenigen großen Abenteuer, die der Globus noch zu bieten hat: ein Trip in die Eiszeit, eine Forschungsreise à la Jules Verne, die Entdeckung einer bisher unbekannten Welt. Wir haben gespielt – und gewonnen. Wie schnell hat man bei diesem Russischen Roulett im Eis einen Toten. Wer von uns hätte dann dafür geradegestanden? Der Erfolg hat viele Väter. Der Misserfolg keinen!

123 Meter tief sind wir ins Grönlandeis hinabgestiegen. Und 1.200 Meter sind wir in einen Gletschermund hineingehetzt und hatten viele hundert Meter Eis über uns. Die dabei gesammelten Eisproben werden den Wissenschaftlern über die Vergangenheit erzählen, aber auch über die Zukunft der Erde. „Die Staubeinschlüsse, die wir aus der Tiefe mitbrachten sind vielleicht vom Ausbruch des Vesuvs, der Pompeji verschüttete“, sagte Yann.

Wir haben das Tor zu einem magischen Universum aufgestoßen. Und eine neue Spielart am weit verzweigten Baum des Alpinismus eröffnet.

© 2000, AlpOnline


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