MICHAEL VOGELEY
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Mit Rentieren durch die Laponia Heritage Area. Von Michael Vogeley
Ein Lasso hält er in der Hand und der Hund liegt ihm zu Füßen. Geduldig antwortet der Same auf unsere Frage nach dem Weg: „Hier gibt es keine Wege, nur Richtungen.“
Es ist ein zeitloses Trekking nördlich des Polarkreises unter der Mitternachtssonne. Die Wanderung fasziniert jeden, der sich danach sehnt, durch pure Wildnis zu ziehen, Berge zu erforschen, Fliegenfischen zu lernen und in die Lebensart der Saami – der Lappen – einzutauchen, mit Rentieren als Begleitern, die des Trekkers Rucksack in erträglichen Dimensionen halten.
Das UNESCO-Weltnaturerbe Laponia lässt Trekkerherzen höher schlagen. Es wird als „die letzte Wildnis Europas“ bezeichnet, eine Art Alaska auf dem alten Kontinent. Wer durch dieses behütete Kleinod zieht, trifft öfter einen Elch als einen Menschen.
Die Stille hören
„Es gibt Menschen, die haben noch nie die Stille gehört“, erzählt Lennart. Der Same setzt sich auf ein Rentierfell, das er – unnötigerweise – auf den weichen Heideteppich unterhalb eines Berggipfels gelegt hat, und schweigt einfach. Er „zeigt“ uns hier im Zentrum der Nationalparks förmlich die Stille. Wir erleben den Park im sanften September, im „Höstsommar“, wie die Schweden ihn nennen. Es sind nicht viele Tage zwischen Sommer und Winter. Die Mücken und fiesen Knotts sind schon im Winterschlaf, und der Schnee ist zu ahnen. Es ist Lapplands schönste Zeit. Die Samen treiben die Rentiere aus den Bergen zurück in die Niederungen, die Sonne schwebt dicht über den Baumwipfeln, und im Herbstlicht glühen die Birken. Es duftet nach Sumpfporst, einer Pflanze, deren Öl nicht nur die Knotts vertreibt, sondern auch sexuell anregend wirken soll.
Neben Lennart grast friedlich ein Ren an langer Leine, gezähmt, trainiert, kastriert, sanft – ein „Härk“. Wenn man es streichelt, läuft eine Welle über sein dichtes Fell, das eine wärmere Unterlage bieten würde als jede Isomatte. Es ist die normale Reaktion, wie wenn es ein Insekt vertreiben wollte. Gestern haben wir die mäßig schweren Rucksäcke geschultert, haben die Packtaschen der Rentiere mit Essen (und viel Kaffee), Schlafzelten und einer großen Zeltkota vollgestopft und uns auf den Weg in die lappländische Wildnis gemacht.
Wir Saami sind freie Menschen in einer freien Landschaft
Das ist ein samisches Sprichwort. Wir verlassen den See Avddajaure, überschreiten die unsichtbare Nationalparkgrenze und trekken in das Gebiet des Alitave-Massivs im Herzen der Unna Cerus Saami Community.
Der Scout erzählt von der uralten Kultur. Zunehmend finden die Samen nach Jahrhunderten der Unterdrückung wieder zu ihrer eigenen Identität. Wir durchstreifen das Land der Berg-Lappen.
Es gibt keine Zivilisation mehr, nur Landschaft, nur noch uns und den Rentieren verantwortlich. Manchmal folgen wir einem alten Lappenweg, keinem Pfad im gewohnten Sinne, sondern einer Richtung, bestimmt durch die Berge links und rechts. Oder wir nutzen im dichten Birkenunterholz Rentierspuren. Beim Berg Marggo erwartet uns eine maßlose Gegend. Es gibt keine roten Farbkleckse an den „Wegen“. Vergletscherte Zweitausender grüßen.
„In der Wildnis liegt die Rettung der Erde“, erkannte der amerikanische Philosoph Thoreau schon vor eineinhalb Jahrhunderten richtig. Abends schlagen wir die Zelte in der Großartigkeit der Landschaft auf und versorgen die Rentiere. Die Gletscher färben sich rosa, die Sonne geht nie richtig unter. Mitternachtssonne und reife Beeren, das ist Lapplandsommer. Das Weideland grünt, frisch und klar glucksen die Bäche, in den Seen tummeln sich Forellen.
Wir sind im Land der Raubtiere. Füchse sehen wir, Luchse und Vielfraße hinterlassen nur ihre Spuren im Ufersand. Wir beobachten Schneehühner und Singschwäne und finden Ren- oder Elchgeweihe. Unsere Karawane zieht vorbei an weidenden, halbwilden Renherden, die hügelauf, hügelab ziehen. Lennart hat seine Rentiere jahrelang für das Tragen trainiert.
Gebirgsbäche mäander silbern im Sonnenlicht. Es gibt keine Brücken. Wasserläufe überqueren wir mit „Seele und Schwung“, wandern durch dichte Schwarzbirkenwälder, Weidendickichte und über wippende Kräuterwiesen.
Essen wie in der Steinzeit
Wir sammeln Beeren – die süßen Blaubeeren, die bitteren Moosbeeren und die gelben Moltebeeren. Gegen Abend bringt uns Lennart das Fliegenfischen bei. Der Urjagdtrieb auf Forelle und Saibling lässt uns fast das Trekken vergessen. Trapperleben eben.
Lappland riecht nach Fisch, Feuer und Freiheit. Lennart gart in einer Kochgrube Saibling in Birkenrinde – wie in der Steinzeit. Es wird ein kulinarisches Abenteuer im samischen „Lavuu“, einer Art Tipi. Danach trinken wir pechschwarzen Kaffee, in dem der Löffel stecken bleibt. Vor der Kota putzt sich der Herbst noch mal so richtig heraus. Bergbirken schimmern gelb, in purpurnen Farben leuchtet die Heide – Indian Summer auf Schwedisch. Ein Farbrausch in einem fast unberührten Landstrich.
Die Rentiere mit ihren gewichtigen Packtaschen lassen es anderntags wie immer ruhig angehen. Ihre Gelassenheit steckt an, fließt in uns hinein. Der gewohnte Trekking-Leistungsgedanke fällt ab. Huf für Huf wächst der Abstand zwischen uns und der hektischen Zivilisation. Laponia fängt uns auf diesem „Edelsteintrekking“ ein.
Die Flora glüht. Die Kulisse mit den schneebedeckten Zweitausendern, der Gleichklang, der Trott, die Stille sind wie autogenes Training. Lennart erklärt, wie man mit den friedlichen Tieren mit den mächtigen Geweihen umgeht: dass die Satteltaschen auf beiden Seiten gleichzeitig aufgeladen werden oder dass man die Tiere immer hinter sich führt. Berührung macht sie nervös – und Blickkontakt. Der Verhaltenskodex ist einfach: keine plötzlichen Bewegungen, sanftes, aber bestimmtes Ziehen an der Führungsleine. Vor allem wenn Leckereien wie Flechten, Birkenlaub oder gar Pilze sie von ihrer Tragearbeit ablenken.
Und trotzdem Rentiersteaks
Die Migrationspfade der Wild-Rentiere sind unsere „Wege“. Wir trekken über einen Moränenrücken hinunter zu einem gischtenden Wildfluss, durch ein Moor mit einem Meer aus glühenden Farben. Rot leuchtet das Sumpfgras, goldbraun das Laub von Moltebeere und Polarbirke, nur die kniehohen Weiden treiben grün. Die Hälfte des Parks ist bewaldet, Seen und Sümpfe dominieren. Orangefarbene Moose überziehen die niedrigen Felsen. Gerade mal fünfzig Jahre ist es her, dass die ehemaligen Nomaden dieses Gebiet noch mit ihren Rentierherden durchstreiften.
Mittags kramt Lennart Rauchschinken aus dem Rucksack. Er schmeckt köstlich Und in der Kota brutzeln abends Rentiersteaks.
Danach gibt es Fika – Kaffee und Kekse. Wir sitzen ums Lagerfeuer, trinken ein Glas Whiskey, den wir zollfrei beim Flug hierher erstanden haben. Die Flammen des Birkenholzfeuers tanzen über zufriedene Trekker-Gesichter.
Die Tragtiere schnauben vor den Zelten und käuen ihr Rentiermoos wieder. Ich verkneife mir, Lennart zu fragen, wie viele Rentiere ihm gehören. Das wäre ein Fauxpas, so etwa, wie wenn man in Mitteleuropa jemanden fragen würde, wie sein Kontostand sei.
Aus dem Schlafsack blickt man über eine Koloritorgie zu den sanft gewölbten Hügeln und hinüber zu schneebedeckten Gipfeln. Das Laub der Birken verfärbt sich gelb, dunkelrot leuchten Alpen-Bärentrauben und Gebirgsheide, im Tal glitzert ein See in der tiefen Herbstsonne. Die Erde erscheint unendlich weit. Nirgends ein Strommast, keine Straße, kein Haus.
Unten blinken Feuer, eine Herde Rentiere zieht vorbei. Etwa drei Dutzend Familien der ursprünglichen Saami-Bevölkerung verdienen noch ihren Lebensunterhalt als Rentierzüchter. Im Sommer und im Herbst streifen rund 23 000 Rentiere frei durch das schwedische Fjäll.
Und nur sehr wenige Trekker. Wir haben dank Lennart die Stille gehört.
Padjelanta, Sarek, Stora Sjöfallet und Muddus: Diese vier Nationalparks bilden zusammen mit den Naturreservaten Sjaunja und Stubba das Welterbegebiet Laponia. Die Verknüpfung von mehreren geschützten Gebieten und Nationalparks ist einmalig in Europa. Das Gebiet umfasst nicht weniger als 9400 km2 unberührte Natur, meist als hoch gelegene Fjäll-Landschaft. Es ist Europas größte, weitgehend unbeeinflusste, geschützte Naturlandschaft, die häufig als „Europas letzte Wildnis“ bezeichnet wird. Besonders der Sarek ist einzigartig. Es gibt dort keine touristischen Einrichtungen, das Gebiet soll unberührte Natur bleiben.
Schweden hat die Parks dem Einfluss der Zivilisation durch konsequente Gesetze und eine strenge Exekutive entzogen. Daraus entstand schon Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Sarek der erste Nationalpark in Europa. Menschen zu treffen, ist weniger wahrscheinlich als Adler, Rentiere und Elche.
Die Berge in diesem arktischen Teil Schwedens sind majestätisch. Dramatische Gipfel und große Gletscher steilen über tiefen Tälern mit schäumenden Flüssen und klaren Bergseen. Die Fauna ist aufregend: ein reiches Vogelleben, die Möglichkeit, einen Blick auf einen Bergfuchs zu erhaschen und wilde Rentiere, Elche, Wölfe, Bären oder einen Vielfraß zu beobachten. Hier leben die Samen mit ihren Rentieren noch immer im Einklang mit der Natur.