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MICHAEL VOGELEY

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Herausforderung Endpunkt

Über den „Tanzboden des Teufels“ zum Nordpol. Von Michael Vogeley für AlpOnline

Einmal am Pol stehen, am Schnittpunkt aller Zeitzonen, wo sechs Monate Nacht und sechs Monate Tag herrschen. Er ist der Traum aller, die das ewige Eis verzaubert hat. Das ganze mit Ski, bei eisigem Wind, berstenden Eisschollen und mit einem 50-Kilo-Schlitten als Gepäck. Die „1. Deutsche Nordpol-Ski-Expedition“ erreichte von der sibirischen Station „Borneo“ den nördlichsten Punkt der Erde.
Keiner kennt diese Herausforderung besser als unser Autor – er leitete die Skitour.

Das etwas andere Fliegen in Sibirien

„Today we have minus 40 degrees“ – so steht es lapidar in einem Telegramm aus Sibirien, als wir im anbrechenden Frühling Deutschland verlassen. Khatanga, die kleine Stadt mit einem großen Flughafen in den endlosen Weiten der Taiga empfängt uns eiskalt. Frische Kariboufelle baumeln steifgefroren auf einer verschneiten Teppichstange. Dahinter blinken die vereisten Kippflügel eines großen Düsenjets. Und daneben lacht General Lebed, die politische Hoffnung der Sibirier, von einem windzerzausten Wahlplakat. Für uns ist die Jägersiedlung nahe dem Kap Tscheljuskin, dem nördlichsten Punkt des Eurasischen Kontinents, nur eine Zwischenstation für unsere Expedition. Eineinhalb Tausend Kilometer nordwärts treibt eine Forschungsstation auf dem Eis – Start und Endpunkt unserer Skitour.

Die Propeller der Antonov-26 laufen warm. Wir liegen ergeben und dick vermummt, quasi startbereit, auf den gepackten Pulkas, die auf zwei Tonnen gefrorenem Fisch und rostigen Bettgestellen mit Netzen festgebunden sind. Zwischenstation. Sredni bedeutet Mitte. Auf der winzigen Insel im Nordpolarmeer liegt in Wahrheit „der Hund begraben“. Offiziell arbeitet hier die Wetterstation Golomyannyy, tatsächlich stehen die einsamsten Baracken der russischen Armee in der „Mitte von Nirgendwo“. Ödnis und Eis rundum. Relikte aus den Zeiten des Kalten Krieges sind ein Dutzend verfallende Baracken. Die fünf Besatzungsmitglieder der Station, die einzigen Menschen im Umkreis von Tausenden Kilometern, kontrollieren unsere Pässe mit einem bürokratischen Eifer, der einer Moskowiter Grenzstation alle Ehre macht. Für die meisten des Teams ist es der bisher nördlichste Punkt: der 80. Breitengrad. Hier ist Eisbärenland.

Die Stimme aus dem quäkenden Funkgerät berichtet wenig Ermutigendes: „Eine Landung bei der Ice Station ist momentan nicht möglich.“ Zäher Nebel liegt über der kalten Zeltstadt mit dem irreführenden warmen Namen: Borneo ist wieder einmal isoliert. Wir schnüren die Kapuzen enger und wappnen uns mit dem, was man in Sibirien und der Arktis am meisten braucht: Zeit und Geduld.

Stunden später liegen wir wieder auf dem Gepäck in der gekühlten Maschine, wie in einem eisigen Gruppensarg. Anschnallen ist nicht möglich, die Sitze sind ausgebaut. Die Piloten, die „zu den besten der Welt gehören“, starten in der Eiseskälte mit Tricks die Motoren. Die Turbinen beginnen zu dröhnen, und dann heben wir in einer stiebenden Schneefahne ab. Borneo ist wieder anfliegbar.

Die winzige Zeltstadt erreicht man am Limit der fliegerischen Möglichkeiten. Es ist die nördlichste Ansiedlung auf diesem Planeten, halbpermanent zwischen Winter und Sommer besetzt, und nur bis zwei Breitengrade, 110 bis 220 Kilometer, vom Pol treibend. Sie wurde Anfang März eingerichtet und wird Anfang Mai wieder evakuiert.

Es ist ein harter Wind, der an den in der Weite des gefrorenen Eismeers verlorenen aussehenden Stoffkuppeln der Station rüttelt. Eine schwarzbeflaggte Landebahn ist in das jahrealte Treibeis planiert und verliert mehr und mehr an Plastizität. Noch stellt sie ein Stabilitätswunder und ein Fanal menschlicher Kühnheit dar. Sogar schwere Düsenjets vom Typ Antonow-74 nutzen die schwimmende Piste. Mitte April ahnen wir im endlosen Tag schon den Sommer. Lange wird die Station nicht mehr existieren. Die Drift und die Temperaturen werden dem riesigen Eisstück zusetzen. Wann wird es grollend reißen?

Das ist unsere Idee: Vom nördlichsten Zivilisationspunkt der Erde wollen wir aus eigener Kraft zum Pol, zu dem Punkt, „um den sich alles dreht“. Wir sind die letzten Besucher in dieser Saison – und die fairsten. Der Stationskommandant ist skeptisch: „Ihr wollt es tatsächlich mit Ski probieren?“ Wir bleiben eine Antwort schuldig und schreiten zur Tat.

Die berechneten 120 Kilometer sind in der Realität reine Theorie. Müssen wir uns auf die doppelte Strecke einstellen? Oder auf mehr? Wegen der Wasserläufe, der Eisaufwürfe, der schwierigen Orientierung und den unvermeidbaren Umwegen? Denn ohne zu rasten verschieben Strömungen die Schollen, die Größen deutscher Bundesländer erreichen können – oder auch nur Tischformat.

Eiskalt erwischt

„Vielleicht muss man pathetisch werden, wenn man vom Nordpol erzählt. Vielleicht lässt sich diese Landschaft in knappen Sätzen und mit präzisen Begriffen nicht beschreiben. Vielleicht verlangt gerade die Abwesenheit alles Ablenkenden nach immer neuen und immer noch mehr Adjektiven: silbrig, gleißend, lichtverschleiert. Unbegrenzt, endlos, weltenweit. Frostig, eisig, totenstarr. Verlassen, einsam, leer.“ Freddy Langer, Expeditionsteilnehmer

Seit Stunden taumeln wir auf schwankendem Boden durch die zu Eis erstarrten Wogen der Polarsee und Windböen voller Schneestaub, der in den Augen beißt und die Nasen frostet. Keine Spur weist die Richtung. Es ist der etwas andere Urlaub: Die 1. Deutsche Nordpol-Ski-Expedition zieht ihre Schlitten über das Packeis. Ausgerechnet jetzt frischt der Wind auf, den wir so fürchten. Und immer wieder hemmen uns diese verfluchten Wasserrinnen. Durch Eistürme hacken wir mit einem schweren Bauarbeiterpickel eine ruppige Rinne. Über große Klötze hieven wir die Ski und die wannenförmigen Pulkas. Keine Spur weist die Richtung durch dieses „Labyrinth des gefrorenen Irrsinns“, wie es Polareleve Freddy treffend formuliert.

In acht Skitourenstunden schaffen wir nur knappe drei Kilometer Luftlinie in Richtung Ziel. Geschätzte 18 Kilometer sind wir durch Rauheis, Pulverschnee und Eisschlamm gespurt. Und im Biwak verlieren wir durch die Drift wieder zweikommafünf Kilometer. Fast eine Nullrunde. Ein Kampf mit wandernden Eisschollen, düsteren Wasserrinnen und unüberwindbaren Eiswänden bei minus 35 Grad. Es gibt keine Garantie, den magischen Punkt zu erreichen – die unberechenbare Natur ist das bestimmende Element. Gerade diese aufreizende Ungewissheit stimuliert uns. Wie viele vor uns haben es nicht geschafft, die „Schrecken des Eises und der Finsternis“ (Christoph Ransmayr) erfolgreich zu bestehen?

Das Terrain wird ebener. Das GPS lügt nicht: Wir haben in der letzten Stunde tatsächlich eine Bogenminute geschafft. Das ist eine nautische Meile, 1852 Meter. Hochstimmung kommt auf. Ein metallisch schimmernder Wasserlauf, „breit wie der Mississippi“, gibt der Euphorie einen Dämpfer. Er wird uns wieder einige Stunden Umweg kosten. Sollen wir warten, bis das Eiswasser gefroren ist?

Ausnahmsweise herrscht heute ein Zaubertag ohne Wind, aber mit grimmigen Temperaturen. Die Kapuzenfelle sind fotogen vereist. Eine Polexpedition aus eigener Kraft ist ein enervierendes Unterfangen über eine Buckelpiste olympischen Formats. Am 30. April wird uns der Hubschrauber zurück zur Station liften. Den russischen Piloten ist es egal, wie weit wir dann vom „Dach der Welt“ entfernt sind. Bis dahin spuren wir in totaler Autonomie und pullen unsere 50-Kilo-Schlitten in Richtung des magischen Punkts.

Der Nordpol ist der Schnittpunkt aller Zeitzonen und kennt nur zwei Tage: ein halbes Jahr Nacht, sechs Monate Tag. Am Pol, dem eisigen Mythos allen Entdeckertums, laufen alle Längengrade zusammen. Von hier aus geht es nur noch nach Süden. Im Jahr, als Kolumbus Amerika entdeckte, erfand Martin Behaim den ersten Prototyp der Erdkugel und brachte damit deren Gestalt erstmals plastisch ins Bewusstsein der Menschen. Und er weckte die Begierde, diese mathematische Fixierung zu erobern. Tigieha, der „Große Nagel“, nennen ihn die Inuit weil sie glauben, dass ganz „oben“ ein Eisenstück steckt. Frühere Seefahrer fürchteten, dass ihnen ein starkes Magnetfeld die Nägel aus den Planken der Schiffe ziehen würde. Werden wir die Erdachse quietschen hören?

Eine Allianz des Todes und der Schönheit

Eine Böe fegt Schneestaub über die beinhart gefrorenen Platten einer gefrorenen Wasserrinne. Der erfahrene Victor prüft die frisch gefrosteten Glatteisstellen mit einem Stichel auf ihre Tragbarkeit. Läuft das Wasser zu schnell in die Pickellöcher verzichten wir auf eine Überquerung der dünnen Eishaut und ziehen stundenlange Umwege einem kühlen Bad vor.

Der herausragende Polarforscher Fridtjof Nansen nannte die hohe Arktis „eine Allianz des Todes und der Schönheit“. Generationen von Entdeckern hat der Nordpol inspiriert. Leidenschaft, Geldgier, Ruhmessucht und Patriotismus waren die Motive für Expeditionen an der Grenze der Daseinsmöglichkeiten. Was aber treibt moderne Menschen in Regionen, in denen im Sinne des Wortes der Hintern abfriert, wenn man sich beim Stuhlgang nicht beeilt? Für Polarexpeditionen braucht es eine besondere Motivation, ähnlich der beim Bergsteigen an der Leistungsgrenze. Die tagtägliche Schinderei gehört zum Spiel des „by fair means“. In diesem rotierenden Labyrinth sind wir perfekte „Eroberer des Unnützen“, wie der französische Alpinist Lyonel Terray Bergsteiger titulierte. Man wischt den Schnee vom Gesicht und setzt die Sturmmaske auf, wenn der Wind auffrischt. Es ist spannend, etwas zu tun, was vorher nur wenige geschafft haben. Der Nordpol aus eigener Kraft wird nie eine touristische Spielwiese werden.

Wir zerren unsere Zugeinheiten durch eine glitzernde Fabelwelt und haben den Zustand erreicht, bei dem nur elementare Bedürfnisse zählen. Nach der Tagesleistung lösche ich den größten Durst, stecke den Rakentenwerfer in die Anoraktasche („…wegen der Eisbären“) und schlüpfe aus dem Zelt, um das abendliche „Bulletin“ auszugeben. Ich stapfe von Zelt zu Zelt und verkünde Koordinaten und Kilometerleistung. Die Mitternachtssonne knallt kalt ins Gesicht. Es ist die schönste Zeit des Tages. Manchmal ist es ein stolzes Etmal, das ich verkünde, ein flüchtiges Denkmal menschlichen Willens und der Leidensfähigkeit. Endlos könnte jeder davon erzählen, wie es ist, im Sturm ein Zelt aufzubauen oder den enervierenden Kampf gegen die Kälte und die nur widerspenstig klebenden Felle zu gewinnen. Routine kehrt ein auf dem Eis.

Ständig kämpfen wir um ein wenig Wärme. Als Devise gebe ich aus: „Ihr dürft nie frieren. Wer kalt ist, dem nützt auch der beste Schlafsack nichts. Der ist nichts weiter als eine flexible Thermosflasche: hält Warmes warm und Kaltes kühl.“ Die aufgeplusterte Kunststoffhülle ist der Schlüssel zum Wohlbefinden. Nichts jedoch hilft gegen den Wasserdampf, der am Zeltdach kristallisiert und als Eisregen auf uns rieselt. Feuchte überall: vom Kochen, vom Wasserdampf der Rinnen, vom Schwitzen, vom Atem.

Beliebt ist die „Fünf-Minuten-Terrine für Abenteurer“, gefriergetrocknete Fertigmenues, die mit heißem Wasser schnell ein schmackhaftes Essen ergeben. Travel Lunch hat sich auf Expeditionen bewährt. Den Beutel aufreißen, heißes Wasser drauf, umrühren, ziehen lassen, fertig. Jägertopf zum Frühstück ist der Hit. Dazu Pemmikan, das absonderliche Gemisch der Eskimos aus zerriebenem Trockenfleisch, mit Kräutern, Gewürzen und Gemüse, Talg und Fett. Eingerührt in heiße Suppe ist die Cholesterinbombe ein besonderer Genuss. Alle haben wir in der Kälte einen ungeheuren Fetthunger, Butter beiße ich vom Stück. Durst haben wir immer. Die Weithalsflasche aus Plastik mit dem gefrorenem Urin klopfen wir morgens an einem Eisblock aus. Nahrungsaufnahme und Stoffwechsel liegen eng beieinander. Zwei Aspirin pro Tag halten das Blut dünnflüssig und verringern die Erfrierungsgefahr. Wir fluchen, weil wir uns zu wenig Pfunde als Reserve angefressen haben. In der Arktis zittert man eine Speckschicht schnell ab.

Noch im Schlafsack kontrolliere ich morgens das Satelliten-Peilgerät. Wie war die Drift der vergangenen Stunden? Gelassen rechne ich nach, dass wir in der „Nacht“ ein Drittel unseres mühsam erkämpften gestrigen Etmals verloren haben und nach Südwesten getrieben wurden. „Hamsterlaufrad“ nennen wir den enervierenden Effekt. Er ist völlig normal.

Trügerische Nachtruhe. Ich krieche aus dem Zelt – und starre in einen bleifarbenen Wasserlauf. Im Gegensatz zum Seehund, der mich mit blanken Augen neugierig mustert, bin ich überhaupt nicht ruhig. Lautlos hat sich die Scholle 20 Meter vom Zelt gespalten. Heftig rotieren die Gedanken: Was wäre gewesen, wenn sich das Eis unter dem Zelt gesprengt hätte? Im minus zwei Grad kalten Wasser bleiben nur wenige Minuten zum Überleben. Und nass auf dem Eis sind die Chancen gleich null. Der Anblick ist ein eisiger Wachmacher. Wir sind wieder einmal von Wasserrinnen umzingelt.

Der ganz normale Wahnsinn

Coole Kilometer. Je zwei bilden eine Gruppe und pullen ihre Überlebenseinheiten durch körnigen Triebschnee, der heute die Konsistenz von Sand hat. Alle sind wir – oft seit Jahrzehnten – aktive Bergsteiger. Gerhard Schmatz stand auf dem höchsten Berg der Erde, dem Mt. Everest. Andere haben Sechs- und Siebentausender erklettert. Jeder hat durch viele Jahre Alpinismus Erfahrungen mit den Grenzen der eigenen Psyche und Physis gesammelt. Einige haben sich in die Form ihres Lebens gepusht. Die körperliche Fitness ist selbstverständliches Element einer Expedition am Limit, doch wahrhaftig nicht alles. Eine stabile Psyche und mentale Einstellung sind mindestens ebenso wichtig.

No pain – no gain. Genauso erleben wir täglich die Schinderei. Wir sind aus eigener Kraft auf einem „Weg“ unterwegs, den es vorher nie gab und der als Materie flüchtig ist. Die dünne Eisdecke schwimmt über dem festen Grund des Polarbeckens auf dreitausend Meter tiefem Meerwasser. Wenn die Schollen aufbrechen, öffnen sich Rinnen. Sind sie schmal, springen wir darüber – über einen Dreikilometerabgrund.

Wo offenes Wasser blinkt, schwimmen Seehunde. Dann ist der Eisbär nicht weit. Das größte Landraubtier der Erde ist neugierig, sieht schlecht und riecht hervorragend. Die oft tonnenschwere perfekte Tötungsmaschine hat keinen Feind. Nur der Mensch kann sie in Schach halten. Unsere handliche Pump Gun mit dem furchtbaren Zwölf-Millimeter-Kaliber ist keine Waffe für gezielte Weitschüsse. Die stumpfen Bleigeschosse sind „Stopper“ für den Fall, dass der Bär zu nahe kommt und er sich durch Rufen, Schreien und Leuchtraketen nicht abschrecken lässt.

Wir sind dabei, die Vertikale der Berge in die Horizontale des Packeises zu verlegen. Den Nordpol kann man im Sommer auch anders erreichen. Es gilt als schick, ein Gläschen Schampus am Endpunkt zu trinken – eingeflogen oder mit einem Atomeisbrecher hingefahren. Beim Spiel des „by fair means“ rückt jedoch der Stil in den Vordergrund. Nur wenigen war der Erfolg vergönnt, aus eigener Kraft den Pol zu erreichen.

Für Bergsteiger ist es ein verwegener Gedanke, auf Treibeis zu touren und nicht auf einem Gletscher, sondern durch eine erstarrte, bizarre, reine Schönheit von schier grenzenloser Weite. Einem immerwährenden, buchstäblichen „Weißen Fleck“ auf der Landkarte. Wir 15 Männer stehen mit beiden Beinen fest auf dem Boden – und der ist nur drei Meter dick und will unbedingt mit uns nach Südwesten. Diese Tretmühle ist das, was man in der hohen Arktis fürchtet. Es gibt keinen geradlinigen Weg auf dem Packeis. An jedem Tag bisher war es ein Zickzack-Kurs.

Der Tanzboden des Teufels

Das Gelände ist eine Mischung aus winderodierten Eisgestalten, Sastrugies, und Wasserläufen, Leads. Und gigantischen Eiswürfeln, Hummoks, die sich bei Pressungen der Eisschollen aufpilzen. Welche unheimliche kinetische Energie wird frei, wenn die enormen Schollen aufeinanderstoßen und Aufwürfe von zyklopischen Ausmaßen entstehen? Es war Amundsen, der für solch rauhes Gelände die Metapher vom „Tanzboden des Teufels“ prägte. Wie standen das die Pioniere durch? Ohne eine Ahnung, was vor ihnen liegt, ohne Gewissheit, ob sie das Hunderte Kilometer entfernte Festland je wieder erreichen? Unsere große Hochachtung vor den Protagonisten wächst weiter.

Aufgeregt überschreiten wir für einige Meter den 180. Längengrad, die Datumsgrenze, und sind plötzlich im „Morgen“. Die Distanz zwischen den Meridianen beträgt hier „oben“ gerade mal 500 Meter. Würden wir, wenn wir weiter nach Osten gingen, wie weiland Jules Verne's Phileas Fogg einen Tag gewinnen?

Mit dem Wasserdampf kommt das gespenstische White Out, eine besondere Erscheinungsform des Nebels – ein nulldimensionales Phänomen ohne Anhaltspunkte, ohne Konturen, ohne Boden und ohne Himmel. Es gibt nicht links und rechts, nicht vorne und hinten. Wir spuren durch einen milchigen Wattebausch. Wo ist dieser rastlose Punkt, der kein „ruhender Pol“ ist? Auf 90 Grad Nord wird kein Schild „North Pole“ den Punkt markieren, wo die Achse sinnbildlich aus der Erde stößt. Der polare Arktische Ozean hält uns im Würgegriff. Hoch, runter, drüber, weiter. Es gibt keinen Sonnenaufgang, auch keinen -untergang. Seit dem 21. März steht die Sonne für einen endlosen Halbjahrestag über dem Horizont. Die Lichtspiele im eisigen Sprühnebel sind phantastisch. Das Gestirn ist immer da und oft beringt von einem Halo, der manchmal zwei Nebensonnen, Panhelion, hervorzaubert.

Von Inuit erzählt man, dass sie „zwischen den Ohren einen Computer haben“. Ihr natürlicher Instinkt ist dem Orientierungssinn eines denaturierten Mitteleuropäers weit überlegen. Die Navigation in der Eiswüste ist für uns nicht einfach. Wenn die Sonne besonders aktiv ist, wirbeln Magnetstürme, und bringen den Kompass zum Spinnen. Unsere aktuelle Missweisung ist wegen des nahen Magnetpols mit 100 Grad Ost berechnet! Irritiert stellen wir fest, dass die Nadel der Bussole nach Süden oder Osten zeigt oder auch tanzt. Die Sonne ist unser wichtigstes Navigationsmittel. Der eigene Schatten ist die beste Kompassnadel: Orientierung nach Pfadfinderart. Wenn „der Planet“ von Wolken und Dunst verdeckt ist, hilft nur der Instinkt.

An einem wolkenverhangenen Tag herrscht deshalb auch Chaos. „Lagerspuren!“ brüllt Fridel ungläubig, als er einen Eiskamm umrundet. Hat eine andere Expedition, in dieser Mondlandschaft biwakiert? Ist der unglaubliche Zufall eingetreten, Menschen in dieser endlosen Einöde zu treffen? In der Arktis gibt es keine Zufälle. Wir sind im Kreis gegangen. Die Batterien des GPS erreichen in der Kälte ihre Grenzen. Die Flüssigkristalle der LCD-Anzeige frieren immer wieder ein. Nur wenn wir das Peilgerät im Schlafsack aufwärmen, können wir hoffnungsvoll beobachten, wie die Anzeige Tag für Tag quälend langsam nach „oben“ klettert.

Der Weg war nie das Ziel

Generationen von Polarforschern hat der Nordpol inspiriert. Leidenschaft, Ruhmessucht und Patriotismus waren die Beweggründe. Skipionier Fridtjof Nansen schrieb richtig: „Das Wissen um die Arktis wird wie kein anderes mit Entbehrung, Not und Leiden erkauft.“ Immer wieder versuchten Wagemutige, die erstarrte Unendlichkeit zu besuchen, zu durchqueren und den schon lange definierten „Punkt 90 Grad“ zu betreten. Der Amerikaner Peary behauptete, den Pol als erster Mensch am 6. April 1909 mit Hundeschlitten erreicht zu habe. Vor ihm hatten es viele versucht und kamen um. War es schon ein Jahr vor Peary sein Landsmann Cook, der auf dem imaginären Punkt stand? Oder war es erst im Jahr 1958, als das atomgetriebenes U-Boot Skate der Amerikaner am Pol auftauchte? 1977 brach sich der russiche Eisbrecher Arktika mit 75 000 PS erstmals eine Rinne zum Nordpol – fast eine Dekade nach der ersten Mondlandung!

Heute zählt nicht mehr, ob man den Pol erreicht. Sondern wie! Als 1. Deutscher „by fair means“ stand am 14. Mai 1989 Arved Fuchs auf dem Pol – er spurte mit der internationalen Expedition Icewalk von Kanada über das Treibeis. Mit der 1. Deutsche Nordpol-Ski-Expedition unter Leitung von Michael Vogeley erreichten via Sibirien von der russischen Station Borneo ausgehend acht Deutsche am 28. April 1998 den Endpunkt.

Gegenüber der Zahl der Everest-Besteiger sind die Erfolgreichen „aus eigener Kraft zum Pol“ eine beeindruckende Minderheit.

90 Grad Nord sind nicht greifbar

Am Mittag des 28. April sind wir nach einem Gewaltmarsch noch lächerliche vier Kilometer vom Ziel entfernt. Zuhause wären das beim Lauftraining keine zwanzig Minuten, auf dem Treibeis herrschen jedoch andere Gesetze. Das Gelände ist katastrophal. Trotzdem hochmotiviert beschließen wir: „Wir ziehen durch!“ Das Ziel ist vor Augen – und doch nicht da. Nach neun Stunden Eischaos wühlen wir unter der Persenning das GPS hervor. Ich stecke es unter den Anorak und wärme es am straff gewordenen Bauch. Es braucht fünf Minuten, bis genügend Satelliten „eingefangen“ sind. Noch 400 Meter. Gespannt spuren wir durch das milchige Licht des aufziehenden Schlechtwetters. Noch 200 Meter, dann wieder 600. Wir stehen auf dem Dach der Welt, die einen Umfang von etwa 40 000 Kilometern hat. Das sind vierzig Millionen Meter! Was bedeuten in Anbetracht dieses gewaltigen Umfangs 200 Meter? Der Punkt unserer Phantasie ist ganz nahe, trotzdem nicht greifbar und auf einige Meter nicht bestimmbar. Ich verkünde final: „Wir sind da!“ Ins Tagebuch tragen wir ein: 89 Grad, 59 Minuten, 31 Sekunden, 28. April, 18.52 Uhr. Höhe Null Meter.

Wir sind alle ein bisschen rührselig, umarmen uns und wünschen uns verlegen und auf Normalnull unpassend „Berg Heil!“ Kein Gipfelkreuz markiert den flüchtigen Platz menschlicher Sehnsucht. Der Nordpol ist der „höchste“ Punkt des Globus und trotzdem kein Berggipfel. Er ist die Verkörperung der Geometrie, der Mathematik – und unserer Phantasie. Ausgerechnet Walter Thomas, unser Ältester, redet von „einem Orgasmus der besonderen Art“. Der Freund Thomas Pientka ist mit 32 Jahren wahrscheinlich der Jüngste, der je den Pol aus eigener Kraft erreichte. Das Team verkörpert die 1. Deutsche Nordpol-Ski-Expedition, als wenn es wichtig wäre, in welchem Land man geboren wurde. Es ist weniger eine große Leistung, den Pol aus eigener Kraft zu erreichen, als vielmehr eine Gnade, so etwas tun zu dürfen.

Die Dramaturgie ist filmreif. Fünf Minuten nach der Begegnung mit dem Endpunkt wütet ein Blizzard. Die Zelte aufzuschlagen wird zur Gruppenleistung. Noch einmal zeigt sich, dass in dieser Wildnis nur ein starkes Team Erfolg hat. 40 Stunden liegen wir in den flatternden Zelten und driften mit „unserer“ Scholle 15 Kilometer nach Süden.

Waren es 200 Kilometer, die wir durch das Zick-Zack-Terrain spurten? Oder 50 mehr? Wir konnten es nicht messen, es ist uns auch nicht wichtig. Eines wissen wir jedoch: Es war eine spannende Skitour und eine ordentliche alpinistische Leistung.

== Reiseinformationen ==

Anreise

Linienmaschine von Moskau oder St. Petersburg nach Norilsk. Per Charter nach Khatanga (Sibirien), einer kleinen Stadt in einem großen Land. Zur Ice Station Borneo auf etwa 89 Grad Nord verkehren Frachtflugzeuge in unregelmäßigem Rhythmus. Da die Reise durch militärische Sperrgebiete führt, ist die Genehmigung von etwa acht Behörden erforderlich.

Expeditionszeit

Von Mitte März, wenn es Tag wird, bis zum Eisaufbruch Mitte Juni. Beste Zeit ist Ende April. Die Temperaturen werden dann erträglich, das Eis ist noch stabil, und es herrscht oft stabiles Hochdruckwetter über der Polkappe. Temperaturen zwischen 10 und minus 35 Grad Celsius. Achtung vor dem Wind, der die tiefen Temperaturen dramatisch verstärkt (Chill-Faktor).

Voraussetzungen

Bergsteigerische Erfahrung. Gute Alpinisten können sich die Expedition zutrauen. Keine Extremtour. Skitechnische Kenntnisse sind von Vorteil, Abfahrtskünste nicht gefragt. Biwakerfahrung in der Kälte sollte trainiert sein. Gruppentauglichkeit. Man muss Spaß daran haben, sich zu schinden.

Wer hilft?

Einziger Veranstalter für eine Nordpol-Expedition ist in Deutschland der DAV Summit Club GmbH, Am Perlacher Forst 186, 81545 München. Telefon 089/642400. Im Preis von knapp DM 15 000 („teuerste Skitour der Welt“) ist alles enthalten: Flüge, Hotels, Vollpension, Pulkas, Zelte, Expeditionsverpflegung, Kocher, Sicherheitsausrüstung. Gegenüber der anderen Alternative, von Kanada aus den Pol zu erreichen, ist das unschlagbar preiswert! Auf eigene Faust besteht kaum eine Chance, sich im Sprach-, Behörden- und Organisationsgewirr Russlands zu behaupten. Leitung ab 1999 durch die russischen Arktisspezialisten Dr. Victor Bojarsky und Victor Serov. Informationen auch von Michael Vogeley, Kontaktaufnahme Fax 08153/89102.

Ausrüstung

Feuchtigkeit ist ein größerer Feind bei einer Tour zum Nordpol, als die Kälte. Schlechte Funktionskleidung zaubert kiloweise Reif und Eis hervor. Gut: Drei aufeinander abgestimmte Faserpelzschichten, darüber ein atmungsaktiver und winddichter Anzug (nicht mehrlagig). Daune ist nicht geeignet. Bewährt haben sich Unterwäsche (Polarlite) und Überbekleidung (Powertex oder Goretex) von SALEWA (bei ALPINSHOP.COM). Empfohlener Schlafsack: Modell Denali von ajungilak. Als Tourenschuh unschlagbar: Modell mukluk von Timberland (benötigt eine spezielle Bindung). Oder ein Schalen-Bergschuh mit Innenschuh (Bindung Silvretta 300). Hervorragend im Gewichts-/Leistungsverhältnis: gefriergetrocknete Menues Travel Lunch, Simpert Reiter.

Literatur

Arved Fuchs: „Von Pol zu Pol“ (Südpol und Nordpol). Robert E. Peary: „Schlittenreise zum Nordpol“ (nur antiquarisch). Ulrich Pramann: „Der Abenteuer Guide“ (macht Appetit auf die Arktis, Kältetips). Michael Vogeley und Ingrid Ferschoth-Vogeley: „Abenteuer Trekking. Grönland mit Baffin Island“ (hoher Gebrauchswert, viele Ratschläge).

 

© 2000, AlpOnline


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