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MICHAEL VOGELEY

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Innurtuaq

Solo-Expedition zum Magnetischen Nordpol

Solo zum magnetischen Nordpol: Den 120-Kilo-Schlitten über 400 Kilometer, ausschließlich mit eigener Kraft, über das gefrorene Meer ziehen, einen Monat erbarmungslos isoliert sein – das ist wieder einmal eine Expedition, auf die „Polarwolf“ Michael Vogeley voll Sehnsucht, Begeisterung und mit vielen Opfern hingearbeitet hatte.



Abgesetzt im Nirgenwo nahe der letzten nördlichen Siedlung, einer Zinkmine.

Mit einem Husky als „Warnanlage“ gegen Eisbären soll diese Expedition ein Höhepunkt seiner Abenteuerfahrten im hohen Norden werden. Quasi die Krönung von drei Dutzend Arktisreisen und -expeditionen. Warum treibt es ihn immer wieder in Polarregionen? Der Magnetpol liegt abseits des geographischen Pols und wandert jährlich um etwa 15 Kilometer nach Norden, und er wird er seinen bisher nördlichsten Punkt nahe des 80. Breitengrades im nordkanadischen Eismeer erreichen: die eingefrorene Insel King Christian Island.



„By fair means“, nur aus eigener Kraft – das ist die Idee.

Voraussetzung ist die absolute Beherrschung der zu erwartenden Probleme. Wird Vogeley einer der zahlreichen Eisbären im Schlaf überfallen? Ist die Ausrüstung tauglich für 50 Minusgrade? Wird seine Erfahrung groß genug sein? Wird er die ungewohnte Navigation beherrschen und die Route finden? Werde er mit sich allein auskommen?

Vogeley hat lange in sich hineingehorcht, bevor er sich entschied. Idee und Realität müssen übereinstimmen. Er will diesen imaginären Punkt erreichen!

Um mich ist Undurchsichtigkeit. Sieben Achtel Strato cumulus bedeuten: eine weiße Suppe, ein grauer Matsch. Der Nebel legt sich bei diesen 41 Minusgraden des Polarwinters in kleinen, wunderschönen Kristallen auf Kleidung, Skier, die Persenning des Schlittens und klebt an den Haaren des Fuchsfelles, das meine Kapuze einrahmt. Meine Wangen sind feucht. Immer wieder wische ich mit dem Handrücken der Wollhandschuhe darüber. Wenn ich da unvorsichtig bin, gefriert der Schweiß und ruft Frostbeulen hervor. Die Sonne ist nur ein heller Punkt im diffusen Weiß.

Ich stoppe, bin froh, rasten zu können, klicke die Skibindung auf, werfe die Stöcke in den pulvrigen Schnee, streife den Anorakärmel nach oben und peile mit dem Stundenzeiger der speziellen Armbanduhr mit dem 24-Stunden-Zifferblatt die leuchtende Scheibe im Nebel an. Nicht weit von hier treten die enormen Kraftfelder aus, die Kompassnadeln überall auf der Welt anziehen. Hier „oben“ ist der Kompass jedoch nutzlos – die Nadel tanzt und narrt, kann sich im unruhigen Magnetfeld nicht einpendeln. Nur die primitive Navigationsmethode mit Hilfe der Uhr und der Gestirne ist verlässlich. Ich halbiere den Winkel zur Zwölf, weiß damit, wo Süden ist, und lege meine Richtung fest. West und später Nord – hin zu einem Wall aus Eis, hinein in dieses chaotische Haifischgebiss aus übereinander geschobenen Eisplatten. Ich bin allein in einem scheinbar irrealen Universum. Unter mir schimmern die dunklen Schatten des gefrorenen Ozeans.

„Innurtuaq“, sagte der Inuk in Resolute Bay, jenem winzigen Dorf im nordkanadischen Inselarchipel, von wo aus ich gestartet bin, gleichgültig. „Innurtuaq“ bedeutet in der Sprache der Arktis-Ureinwohner „allein“. Was für mich eine große Herausforderung ist, lässt ihn, den „Eskimo“, kalt. Welch ein Unsinn, nach Norden zu ziehen. Dorthin, wo es nichts zu jagen gibt!

Das Haifischgebiss

Ich habe nur ein Ziel: laufen, laufen, laufen. Ein Blizzard mit 200 Stundenkilometern hat vor Tagen die Meereisplatten geknickt und die ungeheure Masse bewegt. Da, wo die Schollen aufeinander trafen, entstanden durch die ungebändigte Masse 20 bis 50 Meter breite Gebirge.



„Wir haben Raueis, wie wir es bisher nicht erlebt haben“, erzählten mir die Inuit bei meinem Start.

Das ist hier, wo die Natur ungestüm ist, trotzdem so selten wie der Halleysche Komet, der alle 75 Jahre erscheint.

Seit Stunden ziehe ich meinen schweren Schlitten über das zu Eis erstarrte Meer, eine See mit Wellen, gespickt mit Eistürmen. Mein Verstand sagt mir, dass ich in diesem Gelände keine Chance habe. Aber ich gehe, weil ich mir befohlen habe zu gehen. Ich bin ein Computer, ein Roboter, der seit zwei Jahren auf dieses Ziel programmiert und seit drei Jahrzehnten darauf trainiert ist, sich zu gehorchen. Das Schlimmste, das „Haifischgebiss“, konnte ich bisher umgehen. Um das Gewicht der Schlittenlast zu reduzieren, habe ich sogar von den Landkarten die Ränder abgeschnitten. Ich wünsche mir einen leichten Rucksack, Steigeisen und einen Pickel. Dann hätte ich eine Chance. Aber mit der Last, die alles zum Leben für einen Monat enthält, bin ich, wenn das Gelände nicht ebener wird, chancenlos. Ich schnalle mich aus der Zugstange, teile das Gepäck auf und wuchte die Ladung in vier Portionen über ein Eishindernis. Niemand hört mein Keuchen. Ich muss langsamer arbeiten und weniger scharf atmen, damit die oberen Bronchien nicht vereisen. Ein selbst auferlegter Kreuzweg im Eis.

Wütend setze ich meine ganze Hüftkraft ein, um das Gewicht des Schlittens in Bewegung zu setzen. Am bretthart gefrorenen Anorakärmel beginne ich mich wund zu scheuern. Das ist Sklavenarbeit, ein Passionsweg . Wo ist das glatte, ebene Meereis, von dem ich geträumt und auf das ich gesetzt habe? Ich fühle mich, austrainiert wie ich bin, wie ein 16-Ventil-Einspritzmotor, der nur auf zwei armseligen Zylindern läuft.

Sobald das Eis ein wenig ansteigt, erscheint mir der Schlitten wie ein Sack, den ich durch Sand ziehe. Meine Geschwindigkeit reduziert sich gegen Null. Ich setze die „Brechstange“ an, stelle die Skier quer und wuchte die Last zentimeterweise weiter, bemüht, das Gleichgewicht zu halten, bis es wieder für einige Meter eben wird. Dieses wilde Eis ist kein Gelände, das nicht irgendwie zu überwinden wäre. Aber die Pulka hinter meinem Kreuz zeigt die Grenzen. Mit etwa 70 Kilo weniger Gepäck, wie bei Jean-Louis Etienne, der – unterstützt von einer Außenmannschaft und Flugzeugen – allein zum geographischen Pol ging, wäre es zu schaffen. Doch das lässt sich mit meiner Idee „by fair means“, ohne Versorgungsflüge und ohne Depots, und den Spielregeln „back to the rules“ nicht vereinbaren. Mit der modernen Technik von heute ist doch alles möglich.

Manchmal hängt eine der busenförmigen Kufen des Schlittens in einer Spalte, die sich – halb zugeweht – Hunderte von Metern weit zieht. Dann muss ich mich ausschirren, erst das hintere, dann das vordere Ende des Schlittens herauswuchten und wieder in die Gehrichtung drehen. Die Spalten sind nicht gefährlich, da sie oft nur einen halben Meter breit sind. Mit Skiern ist das kein Problem. Die Kälte jedoch ist wie ein Tier, das mich beißt. Die Kunststoffkleidung knistert und ist steifgefroren.

Um mich herum ist Monotonie. Wie ein Vorhang hebt sich am späten Vormittag der Nebel. Das wird ein Arktistag wie aus dem Bilderbuch. Schlagartig zeigt das Thermometer am Schlitten nur noch minus 28 Grad Celsius an.



Jahrhundertelang war diese unwirtliche Region Bühne brutaler Entdeckerdramen.

Die gescheiterte Franklinexpedition war die weltberühmte „Entdeckung der Langsamkeit“.

Mein Rhythmus ist gut. Seit Stunden bin ich ohne Pause auf meinem eigenen Schatten unterwegs. Unrast und Eile unterdrücke ich und versuche, mich zu disziplinieren. Schweiß bedeutet Kälte, Kälte ist gleich Energieverlust. Schwitzen heißt auch Durst zu haben, und Durst ist gleichzusetzen mit Leistungsabfall und damit, dass ich mehr trinken muss. Trinken bedeutet Kochen, Kochen heißt Brennstoffverbrauch … Ein Teufelskreis würde sich schließen. Ich befehle mir: „Geh deinen Rhythmus, Micha, zügele deine Ungeduld, halte dich im Zaum, kontrolliere dein Temperament. Aber: Zieh!“

Das kalte Packeis, durch das ich mich schinde, ist in der warmen Stube nur ein abstrakter Begriff. Trotz des schwierigen Geländes steigt Freude an dieser strengen Natur, die von der Sonne zum Gleißen gebracht wird, in mir auf. Ich genieße das Alleinsein. Bin ich doch in diesem „mondo horizontale“ nur noch mir verantwortlich. Auf diese Expedition habe ich lange hingearbeitet. Viele meiner Freunde sind nicht mehr sensibel für die Reize einer Fahrt ins Unbequeme. Da spielen wichtige Gründe eine Rolle: die Familie, der Beruf, die reduzierten Trainingsmöglichkeiten, die nachlassende Gesundheit oder einfach Unlust. Man wird eben älter. In der Arktis habe ich mit vielen Freunden viele Abenteuer erlebt. Aber eine extreme Solotour fehlt mir noch in meinen Expeditionserfahrungen. Bin ich mit ein Fossil oder immer noch nicht erwachsen?

Die unendliche Leichtigkeit des Seins

Ich keuche, fühle mich aber wie gewichtslos, wie Luft, und eine unendliche Leichtigkeit des Seins ist in mir: Ich muss nur an mich denken, muss mich nicht einer Gruppe unterordnen, kann mein Tempo selbst bestimmen. Vielleicht sehen andere darin Egoismus. Ich jedoch will nur diese Erfahrung machen. Von Natur aus bin ich kein „einsamer Wolf“. Es ist fast wie autogenes Training.

Ich luge immer wieder in die Runde und warte darauf, hinter dem nächsten Eisturm vor einem der Bären zu stehen, in dessen Revier ich eingedrungen bin. Mein Gewehr liegt zwischen den durch die Kälte brüchig gewordenen Gummiriemen, welche die Persenning des Schlittens zusammenhalten. Wenn „Er“ kommt, muss ich mich nur aus den zwei Karabinern des Zuggestänges ausklinken, mit zwei Handgriffen die Skibindung öffnen, das Gewehr vom Schlitten greifen, die mit Klettverschluss abgedichtete Hülle aufreißen, den Karabiner herausziehen, durchrepetieren, zielen, schießen und … treffen. Der Vorgang ist komplex, aber ich bin nach mehrmaligem üben auf acht Sekunden gekommen. Das müsste reichen, wenn der Bär mich nicht von hinten anfällt.



„Nanook“ nennen die Eskimos das größte Raubtier der Erde.

Nach fünf Gehstunden spüre ich die Erschöpfung. Dieses Tempo darf ich nicht beibehalten. Im täglichen Expeditionsleben muss ich den Rhythmus – sechsmal eine Stunde Gehen, fünfmal zehn Minuten Pause – unbedingt einhalten, sonst mache ich nach einigen Tagen schlapp. Mein rechter Daumen hat Risse. Beim Aufpumpen des Kochers ist die dicke Hornhaut auf der Fingerkuppe an dem kalten Metall festgefroren und aufgesprungen.

Sphärische Musik

Nach der Karte habe ich in 300 Minuten pausenlosem Ziehen tatsächlich zehn Kilometer geschafft. Die Wegstrecke war deutlich länger. Ich schätze sie auf 14, 15 Kilometer. Welch schlimmes Verhältnis! Mit zehn Prozent Abweichung, vielleicht auch 20, habe ich kalkuliert. Aber fünf Stunden für zehntausend Meter Luftlinie! Das sind zwei Stundenkilometer, das Tempo einer elenden Schnecke. Ich fühle mich gedemütigt und verzweifelt. Nichts ist mehr von der Leichtigkeit des Seins zu spüren. Lediglich die Grandiosität der Eislandschaft entschädigt mich für die Strapazen.

Ausgepumpt sitze ich auf dem Schlittenrand und massiere meine steifen Hände. Die Eisschollen bewegen sich unmerklich, und eine sphärische Musik klingt in der kalten Luft – feine Töne, wenn die viele Quadratkilometer großen Platten aneinander reiben: „Going. Going.“ Die Tide – Ebbe und Flut – arbeitet ständig an dieser Eismasse. Hier ist nicht die Welt der Menschen. Der Bau des nächtlichen Iglus ist schweißtreibende Pflicht, aber das stabile Ergebnis auch der Traum einer sicheren Biwaknacht.



Gierig trinke ich aus meiner Thermosflasche, die ich in die Daunenjacke gewickelt habe und deren Inhalt – Formuladiät, Mineralpulver und heißes Wasser – noch warm ist.

Vor mir türmt sich ein schreckliches Labyrinth. Ich klettere auf einen der Eisgipfel. Diese fünf Meter auf Händen und Füßen zählen zu den schlimmsten Erfahrungen in meinem Leben. Bis zum Horizont türmen sich weitere Ketten von „Haifischgebissen“ und ein aufgewühltes, gefrorenes Meer. In der weißen Hoffnungslosigkeit dieses Irrgartens komme ich mir vor wie eine Maus. Was, wenn nicht dieser eiskalte Bilderbuchtag wäre, die gleißende Sonne, die Ruhe, der meerblaue Himmel, das jungfräuliche Weiß des Schnees? Eine Welt vollkommener Harmonie umgibt mich. Hier irgendwo muss das Paradies sein.

Die Sonne steht schon tief und zaubert lange Schatten in die endlose Gleichgültigkeit. Das Thermometer sinkt auf minus 35 Grad. Wieder ziehe ich den Schlitten durch eine Welt aus Eiswürfeln. Eine eisige Dämmerung bricht an. „Warum herrschen ausgerechnet in diesem Jahr solche Verhältnisse?“ frage ich mich und ärgere mich, weil ich Unabänderlichkeiten in Frage stelle.

„Wo sind deine Logik, deine Anpassungsfähigkeit, deine Gabe, dich auf Unvorhergesehenes einzustellen, die Routine?“ Auf dieser Expedition will ich doch alles an Erfahrung, Kondition und Leidensfähigkeit einbringen, was ich mir bisher im Norden erarbeitet habe.

Es ist 19.30 Uhr, Ende März. Die Sonne verschwindet hinter dem Horizont, das Thermometer sinkt rapide. Jeden Tag wird die Sonne jetzt 20 Minuten länger scheinen, höher und höher steigen, um in etwa vier Wochen überhaupt nicht mehr unterzugehen. Erst die Mittsommernacht im Juni bringt die Wende.



Als ich spätabends die Skistöcke in den Schnee werfe, bin ich elf Stunden unterwegs gewesen – für jämmerliche 20 Kilometer, bei einer Beanspruchung bis an die Grenze.

Das schaffe ich nicht jeden Tag, das hält man keinen Monat lang aus. Ich bin total kaputt. Es gibt nur einen einzigen Ausweg, und der liegt genau hinter mir. Wie weiter? Soll ich mich nach meiner Rückkehr nach Norden fliegen lassen, wo die Verhältnisse vielleicht besser sind? Nein! Wie viel sind Spielregeln wert, wenn man sie bei der ersten Gelegenheit über Bord wirft? Trotz des Verzichts fühle ich eine Schwerelosigkeit in mir, die nur aus dieser großartigen Natur um mich herum kommen kann. Da ist sie wieder, die unendliche Leichtigkeit des Seins. Habe ich je intensiver gelebt?



Ich gebe – das erste Mal auf einer Expedition – auf.

Die Arktis war stärker. Man kann sie nicht besiegen, man muss sich ihr anpassen, sonst geht man unter. Ich komme wieder. Nicht Bewältigtes regt zur Lösung an.

(Nachtrag: Vogeley scheiterte im nächsten Jahr auch beim zweiten Versuch. Bei weniger als 50 Grad minus brach ihm am zwölften Tag der Ski – das Material war zu Glas geworden.)


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