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MICHAEL VOGELEY

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Uummanarsuaq – Senkrecht an Grönlands „Ende der Welt“

von Michael Vogeley für AlpOnline

Uummanarsuaq nennen die Grönländer den Süden der größten Insel der Welt. Unweit des berüchtigten Kap Farvel kletterten zwölf Männer und eine Frau am „Kap der Stürme“, einer Landschaft, die geprägt ist durch Eiszeit, archaische Ursprünglichkeit, eine wilde Bergwelt und eine fast unglaubliche Unberührtheit der fantastischen Granitwände.

Der wilde Süden Grönlands war bisher bergsteigerisch kaum besucht, obwohl die wichtigsten Gipfel auf der Insel Pamiagdluk, dem Arbeitsgebiet, schon bestiegen waren. Für Kletterer ist dort – auch nach dieser Expedition – eine „terra incognita“. Dieser Bericht soll auf ein fantastisches, unbekanntes Gebirge und dessen überreiche Möglichkeiten für Bergsteiger aller Leistungsfähigkeiten hinweisen.

Der hervorragende Fels, die Wandhöhen und Berggestalten, wie sie auch in Patagonien, dem Yosemite-Valley oder im Mont-Blanc-Gebiet Ausnahmen sind, können dieses Gebirge zu einem neuen „Playground of Europe“ machen: „Wie im Mont-Blanc-Massiv vor 200 Jahren.“.

Schlüsselreize, die ein Walkerpfeiler, ein Frêneypfeiler oder ein Bonattipfeiler bei einem Kletterer auslösen, sind von Lust und Stress gekennzeichnet. Wer an die Granitberge Grönlands fährt, wird dieses Phänomen spüren. Grat reiht sich an Grat, Wand an Wand, Zinne an Zinne, Pfeiler an Pfeiler. Das Resultat übertraf die Erwartungen:

  • Drei Gipfel wurden erstbestiegen.
  • Drei Gipfel wurden auf neuen Wegen zweitbestiegen.
  • Acht neue Kletterrouten, mit Wandhöhen um 800 Meter und Schwierigkeiten bis zum oberen VII. Grad (UIAA), wurden erstbegangen.
  • Vier Wege wurden zweitgeklettert.
  • Alle Routen wurden im alpinen Stil, onsight und ohne Fixseile, geklettert.

Acht Jahre und eine Idee

Die Einfahrt mit der Tulut, einem alten, hölzernen Fischtrawler, in den Torssukataq-Fjord entspricht meinen Erinnerungen. Die Freunde, die ich für diese Idee gewann, bestaunen das Wunder und äußern sich: „Fantastisch… unglaublich… Spitze… davon hast Du uns nichts erzählt.“ Der steile Fjord mit den beeindruckenden Fluchten, den Eisbergen und den Granitpfeilern sucht auf der Welt seinesgleichen. Es wird eine Fahrt durchs Gebirge, vorbei an „Badiles, Drus, Cerro Torres…“.

Himmelhohe Wände setzen unmittelbar am Eismeer an, steilen sich in den – Gott sei's gedankt! – blauen Himmel und werfen ihre Schatten über den nur wenige hundert Meter breiten Fjord. Ein Blick auf die Karte: Manche Gipfel kulminieren an der 2.000-Meter-Marke – dazwischen Wände, Pfeiler, Grate, welche die See mit dem Himmel verbinden.

Die Last der Idee und der daraus resultierenden Erwartungshaltung der Freunde ist groß. Sie wird erleichtert durch die Begeisterung rundum. Unsere brave Tulut fährt Slalom durch Eisberge und dieses alpines Wunderland.

Ein Dutzend Mal war ich auf Grönland, der pittoresken, riesengroßen Insel, die zu fast 85 % mit Eis bedeckt ist. Selbst bei einer solchen Zahl von „tripps“ lernt man an der äquatorlangen Gebirgsküste das Land nur unvollkommen kennen. Überall wo ich war: Die Erinnerung an die kühnen Berggestalten des Kap Farvel-Gebietes ließen nicht los.

Dass es hier Berge gibt, können die Kameraden unschwer erkennen. Doch wie wird der Fels sein, wie die Klettermöglichkeiten? Stimmen die spärlichen Informationen über „besten Mont-Blanc-Granit“? Werden wir einen Monat lang von akzeptablem Wetter gesegnet sein? Werden wir ein Gebirge finden oder nur einen Klettergarten? Wird die Mannschaft genügend Respekt vor der unberechenbaren Natur haben? Werden wir das Glück der Tüchtigen haben und unfallfrei nach Hause zurückkehren? Die Zeichen dafür stehen gut. Die Gruppe ist homogen: intelligente Kletterkönner, mit allen Gebirgswassern gewaschene Routiniers, alles Freunde mit verteilten Fähigkeiten: Ärzte, Wissenschaftler, Jäger, Arktisexperten, Bergführer, Jugendliche und Senioren, Schreiberlinge, blendende Fotografen – und eine Frau. Alle sind gute bis sehr gute Bergsteiger. Ein starkes Team, eine glückliche Mischung aus Kompetenz, Potenz und Intelligenz.

Der Südwesten Grönlands zählt zum zivilisiertesten Teil dieser wilden Insel, die etwa so groß wie Europa ist und gerade 55.000 Einwohner beherbergt. Der äußerste Süden, Uummanarsuaq, etwa sechs Bootsstunden von der letzten Stadt, Nanortalik, dem „Bärenort“, entfernt, die immerhin 1.500 Einwohner zählt, ist unwirtlich: Wild, steil, fast unbewohnt und von grandiosen Naturschönheiten gesegnet.

Die Anreise

Unter Ausnützung der modernen Verkehrsmöglichkeiten werden wir in drei Tagen in das Basislager auf der Insel Pamiagdluk katapultiert. Andi Wagner, offizieller Hüter des Expeditionstagebuches, erinnert sich.
…nach einem wolkenverhangenen Flug über den Atlantik ein atemberaubender Sinkflug über das Inlandeis, Gletscher und steile Felswände.

Der Jet kracht auf die Betonpiste von Narsarsuaq. Das gottverlassene Nest – kaum 100 Einwohner leben hier – ist ein Überbleibsel des zweiten Weltkrieges und war damals eine Basis, um leichter über den Atlantik zu fliegen. Später beherbergte das Lazarett die verstümmelten Veteranen des Koreakrieges, um diese von den USA fern- und die Kriegsmoral hochzuhalten.

Wir treffen Stefan Glowacz, der in den letzten Tagen am Zentralpfeiler des Ulamertorssuaq im Ketils-Fjord kletterte und mit seinen Freunden in einer Neutour den IX. Grad nach Grönland übertrug. Hochmotiviert von seinen Erzählungen verlassen wir den Flughafen… Der erste Tag auf Grönland hat unsere Erwartungen bei weitem übertroffen… Auf der Höhe von Narsaq liegen die Eisberge dichter… Vereinzelt lassen sich Seehundköpfe und Walflossen ausmachen.

Unser Ziel, das Kap Farvel-Gebiet, ist so gut wie unerschlossen. Uns erwartet eine Fahrt ins Unbekannte.
Aaluitsup paa, die kleine Siedlung, zieht backbord vorbei. Letztes Jahr wurde ich dort vom dänischen Lehrer des Dorfes und seiner Inuitfrau eingeladen. Bei einem Suff- und Eifersuchtsdrama war der Bruder von Elisa zwei Tage vorher erschossen worden. Ein Nebenbuhler hatte ihm betrunken mit einem Gewehr das Hirn aus dem Kopf geblasen. Alkoholismus ist in Grönland eine Untertreibung. Die Gewalttat jedoch ist ungewöhnlich, obwohl fast jeder auf der Insel ein Gewehr besitzt und für die Jagd nutzt. Grönländer sind im allgemeinen ein liebenswertes, aggressionsloses Volk.

Umgeben von Meeresbuchten und Fjorden, in denen Eisberge treiben, stehen die Berge in eindrucksvollem Kontrast… Wir passieren Frederiksdal und biegen in den Torssukatak-Fjord ein. Eine gigantische Bergwelt tut sich auf.

Der Blick vom Basislager zum Naujarssuit-Massiv wird von einer eindrucksvollen Kante gefangen, die, nach oben immer mehr aufsteilend, am 1.100 Meter hohen Gipfel endet. Die Kulminationshöhen sind nach alpenländischen Maßstäben bescheiden, die Wandhöhen und die klimatischen Bedingungen halten strengen Vergleichen in den Bergen der Welt stand.

Wir sind angefressen von einem vorsichtigen, respektvollen, heißglühenden Ehrgeiz, einer besonderen Energieform. Unser Auftrieb ist riesengroß, der Tatendrang unterliegt vorerst der organisatorischen Vernunft. Bald jedoch explodiert das über eineinhalb Jahre genährte Verlangen nach Aktivität: Klaus Bierl, Günter Schweißhelm, Herwig Sedlmayer und Rolf Thausing wandern unter donnernden Wasserfällen zu einem langgestreckten See, an dessen Ende sich ein Felswunder auftut, das wir später Amphitheater taufen: Westlich eine riesige, mauerglatte rote Wand. Östlich steilt eine Flucht, die an die Nordwand der Große Zinne erinnert. Rundum wüste, granitene Ungetüme, die gekrönt sind von der kühnen Gestalt des höchsten Berges der Insel. Dazwischen der Talgrund, die Märchenwiese, mit einem blaugrünen See. Am Fuße dieser landschaftlichen Schönheiten fußt der Elefantenrücken eines Pfeilers. Herwig legt seine Gefühle im Tagebuch nieder.

Nach abendlicher Diskussion, bei der allen Kletterern drastisch die Gefahren grönländischen Bergsteigens vor Auge geführt wurde („Blizzards innerhalb von Minuten… Hier gibt es keinerlei Hilfe… Ein Schwerverletzter lässt die Expedition scheitern“) ist die Stimmung der gesamten Mannschaft eher verhalten.

An dieser verhaltenen Stimmung bin ich schuld. Bisher strahlte die Sonne, und fleckenloser Himmel vermittelte die Atmosphäre sommerlicher Leichtigkeit. Meine Verantwortung ist es, die launische Wechselhaftigkeit des arktischen Wetters vor Augen zu führen. Für mich ist es keine Genugtuung, später Recht zu behalten, als das geschützte Lager ein Spiel der Naturgewalten wird.

Noch gibt es keine Wetterprobleme. Die Vierermannschaft „erstürmt“ – im wahrsten Sinne des Wortes – in wenigen Stunden den 800 Meter hohen markanten Pfeiler. Günter schwärmt von einer Tour, „die ihn an die Fußsteinkante erinnert, aber schwerer und länger ist.“ Klaus nennt sie „eigenwillig, unten durch einen breiten Rücken gekennzeichnet und oben schwerer wird, aber nicht mehr so schön ist.“ Der kühle Herwig wiegelt ab: „…im wahrsten Sinne des Wortes eine Erstbegehung“. Er hadert mit der geringen Schwierigkeit, die nur an wenigen Stellen den unteren VI. Grad erreicht. Sein Resümee: „Man kann kaum runterfallen.“ Rolf lümmelt im Gras, entlockt seiner Mundharmonika klagende Töne und enthält sich eines Kommentars. Ihm hat es einfach gefallen. Die Meinung der Mannschaft: „Mit kleinem Gepäck eine lohnende Tour. Mit 15-Kilogramm-Rucksack – das Funkgerät war auch dabei – eine lange und anstrengende Unternehmung.“

Die erste Erstbegehung, die Stürmerkante, ist eine optisch wie klettertechnisch eindrucksvolle Tour. Wir lernen den Grönlandfels kennen – und lieben!

Die Erstbesteigung des Ingrids Toppen

Es ist der gleiche Tag. Walter Obster, Gymnasial-Manager aus Profession und Jäger aus Leidenschaft, mein Freund und Begleiter auf zwei Grönlandexpeditionen, und ich stülpen die Mückennetze über die verbrannten Gesichter und steuern den Naujarssuit von der Südost-Seite an. Das Kartenmaterial lässt viele Fragezeichen offen. Doch wie ist das Motto?

Durch Heide, Moor und fingerhohe Birken umrunden wir das Massiv, bis wir an zwei Schneefeldern stehen. Wir entscheiden uns für das südliche. Immer steiler klettern wir im weichen Firn, bis wir über bratschige Felsen mit Watzmann-Ostwand-Charakter ein Geröllfeld erreichen, das ein problemloses, aber anstrengendes Aufwärtssteigen ermöglicht. Das Seil haben wir in den Zelten gelassen, der III. Grad wird nur an einer Stelle erreicht. Meist steigen wir über Schrofengelände, was der höchsten Wand der Ostalpen sehr ähnlich ist. Der Unterschied: Wir turnen über raue Granitbrocken.

Abseits des Naujarssuit erreichen wir durch eine steile Schneerinne den Grat, thronen wenig später auf einem Gipfel, der einem Adlerhorst hoch über dem Eismeer gleicht und inhalieren die bizarre Unordentlichkeit einer fast unendlichen Gipfelwelt. Das Inlandeis hat sich irgendwann zurückgezogen und als Vermächtnis pralle Wände zurückgelassen. Nach Westen streicht ein Granitpanzer herab, der einen Vergleich mit der Bügeleisenkante im Bergell standhält. Tief drunten blinkt der See bei der Märchenwiese. Im Südwesten steilen dunkle Granittürme. Eisberge segeln im Grün der Fjorde, und über dem nahen Kap Farvel hängt eine Sturmwolke. Wir empfinden, wie sich vor 200 Jahren Bergsteiger gefühlt haben müssen, als sie das Mont-Blanc-Massiv erkundeten. Mir wird klar, dass unsere Zeit nie reichen wird, dieses Gebiet zu erkunden, geschweige denn zu erschließen.

Walter errichtet mit der ihm eigenen Sorgfalt einen Steinmann, den er in einer Senke (!) aufbaut, damit „ihn der Wind nicht umweht“. Der Höhenmesser zeigt 1.020 Meter. Ich freue mich, dass der Freund einverstanden ist, diesen Gipfel nach meiner Frau zu benennen: Ingrids Toppen – „Toppen“, Gipfel, nach alter grönländischer Manier.

Uns lockt nach dieser „Entjungferung“ die zweite Besteigung des Naujarssuit. Wir hetzen, einen Wettersturz im Nacken, auf den Gipfel – einem breiten, mit riesigen Blöcken bewürfelt Plateau, wie von Titanen hingeworfen. Der Blick über Uummanarsuaq fasziniert. Das Kap Christian ist nahe, und der Blick auf die Eisberge im Anordliutsup ima, dem Eisfjord zum offenen Meer, fesselnd. Trübe, helle Wolken segeln über das Kap. Drohend steht eine Front über der Südspitze, die uns, nach einem Galoppabstieg, vor dem Lager mit Regen überschüttet. Ab in den Schlafsack! Der Regen trommelt auf die rote Plane des Zeltes. Es schüttet, wie es nur in Grönland schütten kann.

Es war ein Erfolgstag: Zwei Gipfel wurden erstbestiegen, eine Zweitbesteigung im Tourenbuch verbucht. Und dazu die schöne Erstbegehung der Stürmerkante. Der Tag klingt in einer Fressorgie aus. Wir ignorieren die feuchtkalte Tristesse. Friede zieht im Lager ein.

Anordliutsoq: Das Basislager

Ein 30 Meter hoher Monolith schützt die kleine Zeltstadt vor den Winden, die aus Nord vom Inlandeis herabfallen. Die Felsarena im Rücken, der vom Eis weiß gesprenkelte, tiefgrüne Fjord und die Heidelandschaft rundum bilden das, was man gemeinhin einen „Traumplatz“ nennt. Dies hatten Wikinger und Eskimos schon vor Hunderten von Jahren erkannt. Kreisrunde Hüttenruinen der Ureinwohner verwildern neben den rechteckigen Gruben der ehemaligen Normannenhäuser. Daneben flattern unsere bunten Schlafzelte mit dem großen Messezelt. Sie bringen Farbe in das Grün des Talbodens.

Zwei Tonnen Expeditionsgepäck sind ordentlich aufgeräumt. Die Tulut zu entladen und das Lager einzurichten war Schinderei. Mein spitzes, rotes Schlafzelt, mit einem kleinen Sturmzelt als Materialdepot („Man gönnt sich ja sonst nichts“), steht an der Scheide zwischen Meer, dem rauschenden Wildbach und den fantastischen Wänden mit den allerfeinsten Kletterlinien. Wir haben das Paradies gefunden.

Aus dem großen Messezelt, dem Schlüssel für unser Wohlbefinden, ziehen köstliche Düfte. Inge Olzowy und Günter brutzeln Walsteaks und haben aus selbstgebrockten Pilzen einen Eintopf gezaubert. Fips komponiert meisterliche, expeditionsungewöhnliche Diners. Bestecke klappern, der Fünf-Liter-Kanister Rotwein leert sich dramatisch. „In vino veritas, in aqua igittigitt“, ist der Wahlspruch. Eine glückliche Expedition ist jene, bei der reichlich Lebensmittel vorhanden sind – und ein gesegneter Koch, um das Material in Genuss umsetzt!

Unscheinbare Steinhaufen veranschaulichen die abgeschiedene Lage unseres Camps. Blinkende Gebeine – Wikinger oder Eskimos? – blitzen bei tiefstehender Sonne aus den mit Flechten bewachsenen Steinen der Haufengräber unter windzerzausten Felsen.

Fast mutiert das Klettern zur Nummer 2 der Aktivitäten – das Angelfieber hat die Mannschaft gepackt. Köstlicher Arctic Char, als bester Speisefisch der Welt apostrophiert, brutzelt fast jeden Tag in Günters Pfannen und zieht die Mannschaft magisch an. Bernhard reflektiert.

Wenn sich auch manchmal die Fänge in Grenzen hielten, war jedoch jede Ausfahrt ein Erlebnis: Denn … zwischen Eisbergen, Robben und Walen wirft man nicht jeden Tag die Angel aus.

Walter Obster, „Oberjägermeister“, hält eine Schulstunde über die zwei Gewehre, die wir zum Schutze gegen Eisbären dabei haben. Doch zu seinem Leidwesen wird niemand verschleppt, zerbissen oder umgebracht. Denn Bärensaison ist, wenn die Fjorde voller Packeis sind. Im Juli ist es damit meist vorbei, auch wenn draußen, am Kap Farvel, Schollen mit den hungrigen Raubtieren treiben. Im letzten August, bei meinem Besuch in Augpilaqtoq, brachten die Jäger einen erlegten Meister Petz ins Dorf. Walter kriecht – ausgerüstet mit einer am Hals baumelnden Tafel, auf die Eisbären gemalt sind und auf denen die genauen Zielpunkte zum Erlegen markiert sind – ins Messezelt. „Er wünscht sich halt so ein kleines Bärchen!“ Das Probeschießen verlegen wir auf die letzten (!) Tage der Expedition.

Ein Blizzard orgelt, und die Wolken fetzen so tief, als ob sie das Camp unter sich begraben wollen.

Nichts für Lemminge

Unter dem gewaltigen Plattenschuss Rote Wand ducken sich die Zelte des vorgeschobenen Lagers auf der Märchenwiese. Rundum Arktis, ungebändigte Natur, unbewohnt, menschenleer, ohne Leben. Ohne Leben? Da gibt es Ungeheuer! Faustgroße, pelzige, hamsterähnliche Monster, eingebunden in einen Fünfjahresrhythmus der Natur, der die Population anschwellen lässt und dann in einer steilen Fieberkurve absenkt: der Lemming-Zyklus. Wenn die kleinen Nager am Minimum sind, gibt es für Adler, Füchse und Wölfe wenig zu fressen, und sie vermehren sich weniger. Sind die Feinde geringer, vervielfältigen sich die putzigen Tierchen „wie die Karnickel“. Dann gibt es auch für das Raubwild genug Nahrung. Die Population steigt an – und frisst mehr Lemminge, bis die Anzahl der Pelztierchen zurückgeht.

Wir sind mitten in die Katastrophe eines Lemming-Höhepunktes geschlittert. Die Freude am wunderschönen Zeltplatz wird getrübt, weil die Nager sich an den Schnüren verlustieren und nachts die Liegematten unterwandern. Biwaksäcke, Skistöcke und Plastikschüsseln sind „Lemming-Haute-Cuisine“. Nichts ist vor den hamsterähnlichen Tierchen sicher.

Ein vielversprechender Tag bricht an, hoffnungsvoll, wie aus Glas geblasen. Rolf, Herwig, Klaus und Günter steigen gepeinigt in den wuchtigen Pfeiler ein, der die Rote Wand nördlich begrenzt. Herwig schildert.

Außerdem waren wir uns einig, dass wir alle Lust zum Sportklettern hatten… Die ersten Meter erfordern volles Können und höchste Konzentration. Ein Sturz bedeutet einen Flug über den Plattenrand in den darunterliegenden Überhang. Gleichmut kommt auf, als Rolf nach fünf Metern einen Bohrhaken setzen kann.

Die Vier schaffen an diesem Tag die Hälfte der Wand und seilen am späten Nachmittag zurück. Während am nächsten Tag Klaus solo einen neuen Zustieg in das obere Kar bei Qilerdike erkundet, vollenden Günter, Herwig und Rolf die extreme Genusstour, die das Zeug zu einem Klassiker hat.

Nach acht Stunden sind wir sportklettermäßig am höchsten für uns interessanten Punkt – das Band zum Gipfel sparen wir uns… Nach drei Stunden Abseilen stehen wir nach zwölf Stunden harter Arbeit wieder am Wandfuß. 800 Meter Wandhöhe… Abstieg auf eingerichteter Abseilpiste… Schwierigkeiten: Überwiegend V, VI, drei Stellen VII (zweimal zwingend).

Das Gustostückerl des Pfeilers ist eine 100 Meter lange Platte, die Rolfs-Heiße-Nummer getauft wird. Günter schwärmt von „bestem Mont-Blanc-Granit, wie z. B. dem an der Aiguille du Midi.“ Und, „dass die 17 Seillängen ihren eigenen Charakter haben.“ Michael Olzowy zieht den Vergleich mit der Schlüsselstelle der Brown-Route an der Blaitière. Für Herwig ist sie „die schönste Tour, die ich im Granit gemacht habe“, und: „wie die Westwand an der Petite Jorasse.“ Die Hundert-Meter-Platte hält er für „einmalig“. Und verhalten: „Es gibt knackige Stellen, man muss gut drauf sein.“ Die Zweitbegeher Klaus und Michael bestätigen die Schwierigkeiten, die Eleganz und die Schönheit der Tour, die in den Alpen ein Extremklassiker wäre.

Abends stecken die Erstbegeher die Köpfe zusammen und lösen das Problem der Namensgebung: Nichts für Lemminge. Warum wohl?

Harmonie und Drama am Familienpfeiler

Die letzten Sonnenstrahlen stehen auf den Bergen und spiegeln sich im See, Bäche rauschen und glucksen, ein leises Lüftchen hält uns die lästigen Fliegen vom Hals… Wir braten Saiblinge – sie schmecken besser als im besten Grandhotel.

Inge Olzowy schildert das Biwak auf der Märchenwiese mit Mann und Sohn. Das Ziel des Ärzteehepaares und ihres frisch gebackenen Abiturienten mit „den langen Gräten“: Ein Pfeiler südlich des Stürmerpfeilers am Massiv des Naurjassuit. Inge berichtet schmucklos.

Der erste Wandteil ist unproblematisch, II bis III, schöne Plattenkletterei… Im oberen Wandteil nehmen die Schwierigkeiten kontinuierlich zu… Zwei Seillängen im Grad V bis VI, bis sich das Gelände wieder etwas legt und im IV. Grad bis zum Ausstieg bleibt.

Die 24 Seillängen enden nach acht Stunden am Gipfelplateau. Das Ergebnis ist eine 800 Meter-Neutour in genussvollem Gelände. Spannend wird es für die Familie auch beim Abstieg. Im steilen Schnee- und Eisfeld schrammt sie an einer Katastrophe knapp vorbei und springt dem Sensenmann gerade noch von der Hippe.

Wir sind im Mittelteil des großen Schneefeldes, da sehe ich plötzlich… riesige Felsbrocken auf uns zurasen. Ich schreie und versuche, einen Felsvorsprung zu erreichen… Bernhard und ich erkennen, dass die Zeit nicht mehr reicht und hechten in den Bergschrund unter eine Schneeplatte. Und schon donnern die Geschosse über uns hinweg. Ich höre Bernhard schreien, höre Krachen über mir – und dann Druck und Schmerz. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. Michael ist unverletzt, Bernhard hat starke Schmerzen an der Lende und am Arm, ich blute im Gesicht, an Schulter und Wirbelsäule. Meine Männer nehmen mir den Rucksack ab.

Auch Bernhard hat „sein Fett wegbekommen“ und steht unter Schock. Als Inge ins vom Lachen erfüllte Messezelt kriecht, herrscht plötzlich Schweigen. Ihr Gesicht ist entstellt, geschwollen, vom Steinschlag gezeichnet. Sie hat eine Augenverletzung, und später wird ein gebrochener Halswirbel diagnostiziert. Die großartige Frau hat oberflächlich den Schock überwunden, aber wie sieht es in ihrem Inneren aus? Alle bewundern wir diese Bergsteigerin, die klaglos Riesenrucksäcke trägt, hervorragend klettert und immer fröhlich und ausgeglichen ist. Und Frau! Müde und glücklich feiern die Olzowys mit uns „Geburtstag“.

Michaels Augen blitzen als er begeistert vom Familienpfeiler erzählt und ihn mit dem Cengalo-Pfeiler im Bergell vergleicht. Welche höhere Befriedigung kann ein Kletterer finden, als den einer weltfernen Erstbegehung durch Vater-Mutter-Sohn? So etwas dürfte in der alpinen Geschichte einmalig sein. Gehört es in die Annalen? Familienglück am Nordpfeiler des Naujarssuit.

Zwei Fliegen auf einen Streich: Fünfzigerpfeiler und Mückentanz

Nach zwei Stunden ist der Kopf immer noch nicht klar. Klaus wieselt voraus, Walter Obster steigt konzentriert und von Moskitos heiß begehrt, unter mir die Schroffen hinauf. Heute ist der 8. August, gestern war mein 50. Geburtstag. Die alkoholischen Nachwehen büßen wir. Günter intonierte am Vortag zur Gitarre.

    Dies ist heut' ein schöner Tag
schöner Tag
    Miichaaa wird heut' 50 Jahr'
Wer wird 50?
    Der Micha
Wo ist er?
    In Grönland
Laßt's Euch hören
    Höh-lap-laap

Von Inge bespielt, von Fritz bereimt („So lasst uns jetzt die Tassen nehmen/dem Michael entgegenheben/die erste Hälfte ist geschafft/die zweite pack'st mit aller Kraft.“) und von allen gefeiert: Was kann man sich an einem runden Geburtstag mehr wünschen, als im Kreise von Freunden in Grönland zu feiern?

Der elegante Ostgrat des Naujarssuit schwingt sich in einem schlanken, auf den Kopf gestellten „S“, als ein in die Fluchten angelehnter Pfeiler, vom Anordliutsoq-See zum Gipfel. Am Fuße des 700-Meter-Anstiegs rasten wir und tauschen Grönlandgrüße aus: Wir wedeln mit den Armen, um die in uns verliebten Fliegen und Moskitos zu vertreiben. Dann zurren wir die Mückennetze fest und fliehen in den rauhen Fels. Fast alles klettern wir seilfrei. Die Turnerei kratzt nur zweimal am IV. Grad. Der feste, sonnenbeschienene, goldbraune Granit drängt Vergleiche mit der Badile-Nordkante auf: ein wunderschöner Blockgrat, dessen raues Eruptivgestein die Auswirkung eines Reibeisen hat und uns die Fingerspitzen dünnt. Über den Anstieg hat Herwig nach der Zweitbegehung eine Meinung: „Er gefällt mir, man muss immer klettern, er hat viel Spaß gemacht.“ Ich vergleiche mit dem Palü-Ostpfeiler, und Klaus bestätigt den Eindruck. Die Route hat das Format eines Klassiker. Der Handstreich ist „landschaftlich die schönste Tour“: Drunten der See, die winzigen roten Flecken unserer Zeltstadt und der eisgespickte Fjord mit segelnden Eiswürfeln. Es fehlt nur der Whisky!

Die Sicht wird, je höher wir klimmen, wahrhaft unendlich. Der mächtige Schild des Inlandseises blinkt hinter einer Kette aus unbezwungenen Türmen, Bergen, Zinnen und Zacken: Uummanarsuaq. Walter und ich kramen Erinnerungen hervor. War es erst vor sechs Jahren, als wir unsere Schlitten über die größte Eismasse der nördlichen Hemisphäre zogen und das Inlandeis aus eigener Kraft überquerten? Zeit ist in Grönland ein relativer Begriff.

„Höh-lap-lap!“ Vom Nachbarpfeiler jauchzt Andi. Er klettert mit Herwig, Michael Olzowy und Rolf am steilen Nordost-Pfeiler. Deutlich sind bei den vertikalen Abenteurern unter den Helmen die Moskitonetze zu erkennen. Und dunkle Wolken: Myriaden Blutsauger. Die Vier klettern flüssig und elegant in einer überbelichteten Welt die Risse und Platten empor. Michael erzählt später von einer „eigenwilligen, recht schweren Tour in griffigem Granit“.

Die Plagegeister, die uns bis 500 Meter über den Wandfuß begleiteten, haben aufgegeben. Wir legen unsere Mückennetze ab und klimmen südlich der Gratschneide weiter. „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“, doziere ich, als wir, unmittelbar beim Gipfelblock, die Rucksäcke in die Felsen werfen. Wir haben eine Genusskletterstelle nach der anderen gestürmt. Einhellig sind wir der Meinung, dass es in den Alpen kaum einen Platz gibt, der auf so engem Raum eine solche Fülle von grandiosen Felsgipfeln hat. Die Stimmung ist unübertrefflich, die Natur urweltlich. Walter Obster sieht das so.

Am Gipfel genießen wir … das herrliche Gefühl, gemeinsam diesen Pfeiler bewältigt zu haben. Da Micha seit gestern (Klaus und ich schon seit einigen Jahren) 50 Jahre alt ist, taufen wir diese Tour Fünfziger-Pfeiler.

Andi über den Anstieg in der Nachbartour

Von links ruft die Fünfziger-Mannschaft und setzt zum Überholen an. Über geneigteren Fels und schöne Risse und Verschneidungen können wir noch bis zum ersten, runden Pfeilerkopf mithalten und vermissen plötzlich das vertraute Summen…

Für diese schöne Neutour gibt es nur einen „stichhaltigen“ Namen: Mückentanz. Nach diesem launigen Klettertag bleibt genügend Zeit, sich beim Abstieg um andere Dinge als Fels, Karabiner und Schlingen zu kümmern. Klaus, Alpingourmet, erzählt.

Beim Durchqueren der weichen Moosfelder nehmen wir noch die besten Rotkappen für die Küche mit. Die Pilze sind hier dreimal so hoch wie die Birken: Ca. 10 Zentimeter!

Von Wikingern, Grönländern, Eskimos und Inuit

Es schüttet den nächsten Tag ohne Unterbrechung. Der Sturm orgelt und bringt das Wasser im Fjord zum Kochen. Mehrere Einsätze sind notwendig, um die Zelte mit Steinen zu beschweren. Der von mir orakelte Wettersturz hat uns erwischt. Ein Elementarspiel tobt mit arktischen Ausmaßen. Der kurze Weg von den Schlafzelten zum Messezelt wird zum Survivaltrip. Zwei Tage sind wir im Basislager angenagelt. Der Himmel schaut grausam aus. Gegenüber auf Angnigitsoq stiebt ein 600 Meter hoher Wasserfall über die senkrechten unbegangenen Platten. Eines der Boote schlägt leck. Das Barometer fällt in den Keller.

Dass es an diesem Platz ernst, aber auch schön sein kann, wussten schon die Wikinger, die vor etwa 1000 Jahren vino Island Grönland besiedelten. Der Entdecker, Erik der Rote, pries damals die Insel an, wie man heute ein Waschmittel verkaufen würde. Wenig später schwammen 28 Drachenboote hinter dem mittelalterlichen Marketingstrategen in der Irmingärsee, doch nur ein Bruchteil der dickbauchigen, offenen Schiffe erreichte in Sturm und Treibeis die Insel. Fast 500 Jahre lang blühte ein Wikingerreich, bis es auf ungeklärte Weise unterging. War es eine Seuche? Waren es die Kümmerlinge, die „Kärlinger“, die Eskimos, die den Nordmännern den Garaus machten?

Vor nur unglaublichen 100 Jahren entdeckte der Däne Holms an der Ostküste einen auf steinzeitlicher Stufe lebenden Eskimostamm, der noch nie einen anderen Menschen erblickt hatte! Kein Wunder, dass sich die „Eskimos“ – das ungeliebte Wort für Rohfleischesser – als Inuit, Menschen, bezeichnen. Fühlten sie sich doch als einzige menschliche Lebewesen in einer unwirtlichen Welt. Dieses starke Volk, das wohl lebenstüchtigste der Erde, hat seit Jahrtausenden in der Eis- und Meerwildnis der Polargebiete überlebt.

Ab Mitte des 17. Jahrhunderts drangen europäische Seefahrer in den „Arktischen Garten Eden“ vor, um die Lampen Europas brennen zu lassen: Der Walfang erlebte vor 200 Jahren eine Blüte. Trinkfeste Dänen, Deutsche, Briten und Skandinavier kopulierten mit lebenslustigen Inuit-Damen. Es entwickelte sich der „Grönländer“. Grönland, heute dänisches Protektorat mit einer weitgehenden Selbstverwaltung, ist so gut wie menschenleer. Für uns ist das „greifbare“ 130-Seelendorf Augpilaqtoq der Brückenkopf zur Zivilisation.

Wer ins Eiswasser fällt hat wenig Chancen, länger als einige Minuten zu überleben. Tomy Weidmann und Andi Wagner schippern in einer – aus alpinistischer Sicht gesehenen – nautischen Glanzleistung zum unendliche acht Kilometer entfernten Dorf, einem „malerischen Drecknest“. Blutige Seehundkadaver liegen an der Pier. Die Gesichter der Inuit sind dunkel und erinnern an Lava. Bunte Häuser ducken sich am idealen Hafen unter gewaltigen Felswänden. Lüstern liebäugeln wir mit einer Erstbegehung, einem Hafenpfeiler. Es riecht nach Fisch und toten Robben.

Die Satelliten-Telefonverbindung nach Deutschland ist problemlos. Nach dem Kontakt mit der Heimat betreiben wir Völkerverständigung, die damit endet – oder beginnt? – dass eine Kletterelf gegen eine bestens ausgerüstete native Fußballmannschaft in fairem Wettstreit kickt. Walter Obster schildert das „herausragendste Ereignis der Expedition“.

Nach dem Anpfiff entpuppen sich unsere Gastgeber als wendige Fußballspieler… Angriff auf Angriff brandet gegen unser Tor. Die Zuschauer beklatschen Freund und „Feind“… Wir spielen in abenteuerlicher Maskerade: Schlafanzughose, Bergschuhe, Anorak und Gummistiefel… Wir alle haben großen Spaß… Wir verlieren haushoch. Doch der eigentliche Höhepunkt kommt danach: Wir können in der Schule duschen. Erstmals nach drei Wochen!

Die Riesenverschneidung: Pinkus Corner

Wer Herwig kennt, weiß, dass er nur vorsichtig Realitäten wiedergibt und zu Untertreibungen neigt, wohl aus der Sorge heraus, aufzubauschen. Doch aus seinen Erzählungen klingt Respekt, wenn die Rede auf Pinkus Corner kommt. Selten scheinen Herwig und Rolf so durchgehend steil, anstrengend und ausgesetzt im Granit geklettert zu sein, und noch nie haben sie eine solch' kraftzehrende Sportkletterroute in einem wilden Gebirge erstbegangen.

Im starken Wind „flattern die Zelte wie tibetanische Gebetsfahnen“, doch die zackigen Gipfel zerreißen die schnell dahinziehende Wolkenbänke mehr und mehr. Herwig und Rolf starten zur Vollendung der Neutour durch eine Rissverschneidung im südlichen Part der unmöglich scheinenden Roten Wand. Die wenigen Seillängen, die sie vor Tagen schafften, waren „am Anschlag“. Das Projekt verläuft durch die rechteste der drei lotrechten Riesenverschneidungen. Ein ultimatives Ziel mit einer nüchternen Charakteristik: „Wandhöhe 600 Meter, Schwierigkeit VII+/A1 (Vorschlag). Anspruchsvolle, manchmal anstrengende Verschneidungskletterei, die nicht immer abgesichert werden kann.“ Auszüge aus Herwigs Tagebuch lassen den Nervenkrieg erahnen.

Eine Seillänge easy, die zweite der reinste Genuss… Die linke Wand leicht überhängend, die rechte senkrecht und sehr glatt, der Rest dazwischen nur fingernagelbreit… Nach fünf Zittermetern … spreize ich mit voller Kraft einen Sechser-Stopper in den Fels – davon wird sich der Klemmkeil nie mehr erholen… Nach einigen Umdrehungen bleibt der Bohrer stehen. Eine kurze Panik lässt mich ein „Bloß nicht fliegen“ in den Himmel stöhnen… Eine meiner zweifellos härtesten Seillängen liegt hinter uns.

Und über den oberen Wandteil berichtet er. Wenn überhaupt, gab es nur eine Chance: Schnell und entschlossen, quick and dirty. Rolf erreicht einen Pfeilergipfel und wählt mit Kennerblick eine Parallelverschneidung. Dann folgen einige Traumseillängen, gut zu klettern, schwer abzusichern – physisch und moralisch stark fordernd… Gut kletterbare Passagen lösen sich mit einigen A1-Stellen ab, die moralische Anforderung bleibt. Unsere Bewertung ist symptomatisch für „konstant schwer und anspruchsvoll“… In diesem oberen Wandteil stellen wir um auf Bigwall-Technik und „Power-Jümar“: Seil gepackt und bis zum nächsten Fixpunkt hochgezogen. Dann schnelles Seileinholen und gleiche Übung von vorn. Diese Technik hat zwei Vorteile: Der zweite braucht nur fünf Minuten, kommt gut aufgewärmt und leicht keuchend am Stand an und kann sich gleich in die nächste Länge stürzen.
… stehen wir nach 18 konstant schweren Längen am Band. Rolf meint: „Psychisch härter als Walker- oder Frêneypfeiler“… Am ehesten ist die Tour mit den Rissseillängen im Bayerischen Traum, Schüsselkarspitze, vergleichbar: Steile, glatte Verschneidungen, Hangelpassagen unter Dächern…

Pinkus Corner ist eine der schwersten Touren Grönlands. Sie wird von den beiden Erstbegehern als „klassische, anspruchsvolle, freie und kühne Granitkletterei“, und von Herwig als „eine meiner schwersten Touren, so etwas habe ich noch nie gemacht“, charakterisiert. Die ästhetische Linie ist durchgehend leicht überhängend und „sauschwer bis ganz gut machbar“. Herwigs Hommage an Partner Rolf: Die große Anspannung löst sich bei mir erst am nächsten Tag… Unsere Touren waren schöne Gemeinschaftsleistungen in großer Harmonie… Dieses Ergebnis erscheint mir wichtiger, als die Seillängen im VI. und VII. Grad.

Ein Verein macht einen Ausflug

Pamiagdluk hat eine Landschaft, wie im Alten Testament beschrieben: Wild, archaisch, unbehauen. Der erste Schöpfungstag scheint fotografisch materialisiert. In diesem Meer aus erstklassigen Gipfeln und kühnen Bergen ragt ein einsamer Hinkelstein heraus: Der Twin-Pillar ist mit seinen 1.373 Metern der höchste Punkt der Insel. Der Turm steilt über einem Chaos aus Gletschern und Felsen wie ein Finger in den Arktishimmel. Fritz Weidmann war klar, dass diese Bergformation der Superlative „die“ Herausforderung ist. Er wird eine treibende Kraft des Projekts.

Jeder anständige Verein macht einmal im Jahr einen Vereinsausflug… Deshalb beschlossen wir, nachdem wir als ausgesprochene Individualisten im Sinne des Expeditionszieles kräftig in kleinen und Kleinstgruppen losgezogen waren, wenigstens einmal den Gemeinsinn zu stärken… sieben Leute und eine „Leutin“ machten mit.
Dies entspricht 66,66 % der Mannschaft und übertrifft damit das Beteiligungsergebnis der meisten Vereinsausflüge. Klaus Bierl, Bernhard, Inge und Michael Olzowy, Fritz und Tomy Weidmann, Andi und Günter biwakieren auf der Märchenwiese. Der letzte Sturm hat die Zelte verfrachtet, und die Lemminge haben sich wieder einmal am Hightech-Zeltstoff gütlich getan.

Nachts donnert eine Steinlawine aus den Gipfelregionen herab und versprüht Blitze. Blöcke tanzen die Wände hinab und kommen in den Steinhalden beim See zur Ruhe. Der Bergsturz erreicht die Zelte knapp nicht. Nach der lauten Nacht bricht ein Tag mit „herrlichem Wetter und fröhlichen Mücken“ an. Die Luft ist sauber, trocken und klar. Günter, der erfahrene Westalpenkletterer, verklärt über die Besteigung des „Finger Gottes“, der sich beeindruckend in den blauen Arktishimmel steilt.
…hatte ich Angst, ich könnte den Tag, eben diesen, verschlafen. Warum hätte es die ganzen Aufwendungen vorher gebraucht? Das tägliche Lauftraining, die langen Vorbereitungen… Für uns Bergsteiger ist es nie einfach, den Grad zwischen Verantwortung und Wollen und den eigenen Möglichkeiten richtig zu finden und zu gehen… Steil, gewaltig steil, thronte unser „Zahn“ über dem Gletscher… Da ein Riss, der sich in einer Platte verliert, dort ein Band, hier ein schwarzer Überhang. Der Fels ist sonnenbeschienen und sieht freundlich aus, fast einladend… Ich behänge den Klettergurt mit Klemmkeilen, Haken, Kletterhammer und Schlingen… Links folgte ein glatter Schulterriss mit drohenden Außenkanten, so ein richtiger „Arschbackenriss“, an dem jeder Sachsenkletterer seine helle Freude hätte… Tomy schimpfte über den „blöden Schrubber“, das war Balsam für meine Ohren… Die nächste Länge, Risskletterei vom Feinsten… Fips schwärmt weiter.

Die Sonne biegt um die Ecke und lässt kalte Schatten zurück. Bislang war es für mich die reinste Genusskletterei, aber die folgenden dunklen Risse und Überhänge machten mich gar nicht an. Ich querte um die Kante und war im „sonnigen Süden“. Bohrmaschine `raus und so weit oben, wie möglich, ein Loch gebohrt. Am Stand war ich ziemlich ausgepowert. Michael freute sich wie ein Schneekönig, dass er die Führung übernehmen durfte… Um 17.00 Uhr erreichten wir den Gipfel… Ringsherum Abgrund… Michael und ich waren uns einig: Auf einem schöneren Gipfel waren wir bislang nicht gestanden, obwohl wir seit mehr als 30 Jahren ins Gebirge gehen… Wir kamen uns vor, wie auf dem Gipfel der Guglia di Brenta, die allein auf dem Mont Blanc steht… Wir singen: „Heute ist ein schöner Tag…“

Das nüchterne Resumée des Vereinsausfluges: Zehn Seillängen bis VI/A1 oder VII+. Ein fantastischer Turm, der in den Alpen zu einem „Welträtsel aus Stein“ hochgelobt würde, hat in bestem Fels eine Neutour bekommen. Michael: „Nie bin ich auf einem so tollen Gipfel mit einem so tollen Weg gestanden.“ Klaus: „Der Berg steht so beeindruckend solitär, wie die Grande Candelle“. Michael, der die Schlüsselstelle Rotpunkt kletterte, bezeichnet sie als „hart“. Und Günter: „Sachsengelände, fast durchwegs Risskletterei… Ich kenne keinen Gipfel, der so frei steht und auf dem leichtesten Weg mit VI/A1 zu erklettern ist.“

Die Entdeckung eines Gebirges

Nach diesem Höhepunkt wird die Expedition als beendet erklärt, in wenigen Tagen kommt die Tulut. Doch wieder nagelt das Wetter die Mannschaft länger als geplant fest – die Arktis spielt mit anderen Karten!

Für uns waren die Touren wie eine Pilgerfahrt in die alpine Geschichte, die noch geschrieben werden wird. Wir turnten auf einer alpinen Spielwiese, die wir nur „ankratzen“ konnten. Ich behaupte: Wir haben etwas gefunden – und erkundet – das die bergbegeisterten Engländer vor hundert Jahren den 'Playground of Europe' nannten. Damals waren dies die Alpen, morgen kann dies Uummanarsuaq sein: Ein fast unerschöpfliches Reservoir an Türmen, Pfeilern, Graten, Kanten, Zinnen und Wänden. Die Zukunft wird entscheiden, ob diese Erwartung richtig ist.

Die Teilnehmer

  • Klaus Bierl (52), Wildsteig, Ingenieur
  • Walter Obster (53), Wörthsee, Studiendirektor
  • Bernhard Olzowy (19), München, Abiturient
  • Dr. Inge Olzowy, München, Ärztin für Allgemeinmedizin
  • Dr. Michael „Michi“ Olzowy (50), München, Chirurg
  • Günter „Fips“ Schweißhelm (43), Dasing, Diplom-Ingenieur
  • Herwig Sedlmayer (46), Götting, Diplom-Mathematiker
  • Rolf Thausing (25), Salzburg, Landschaftsgärtner
  • Michael „Micha“ Vogeley (50), Wörthsee, Wirtschaftsberater, Leiter
  • Andreas „Andi“ Wagner (29), München, Doktorant der Physik
  • Dr. Fritz Weidmann (59), München, Diplom-Kaufmann
  • Thomas „Tomy“ Weidmann (29), München, Kunstschmied
  • Prof. Dr. Walter „W-Quadrat“ Welsch (55), München, Professor der Geodäsie

 

== Erstbesteigungen und Erstbegehungen ==

1. August

Naujarssuit, N-Gipfel (ca. 1.050 Meter), 1. Besteigung durch Herwig Seldmayer, Rolf Thausing, Klaus Bierl und Günter Schweißhelm über die Stürmerkante, 800 Meter, unterer Wandteil II – IV (seilfrei), oberer Wandteil IV, V und VI- mit ca. 8 Seillängen, 4 Stunden.

Ingrids Toppen (ca. 1.020 Meter), 1. Besteigung durch Michael Vogeley und Walter Obster über die Ostflanke (eine Stelle III) in 6 Stunden von Anordliuitsoq.

4. August

Naujarssuit, N-Gipfel (ca. 1.050 Meter), Familienpfeiler (N-Pfeiler), 1. Begehung durch Michael, Inge und Bernhard Olzowy, Wandhöhe ca. 700 Meter, 21 Seillängen, meist III und IV, 2 Seillängen V und VI, in 8 Stunden.

5. August

Rote Wand, Lemmingstower (ca. 1.050 Meter), 1. Besteigung über die Route Nichts für Lemminge durch Herwig Sedlmayer, Günter Schweißhelm und Rolf Thausing, Wandhöhe ca. 800 Meter, 24 Seillängen, meist V und VI, 2 Seillängen VII, in 8 Stunden nach Vorbereitung des unteren Wandteils am 4.8. in 6 Stunden.

8. August

Naujarssuit (1.100 Meter), Fünfzigerpfeiler südlicher O-Pfeiler), 1. Begehung durch Klaus Bierl, Walter Obster und Michael Vogeley, Wandhöhe ca. 700 Meter, II und III, Stellen IV, in 5 Stunden.

Naujarssuit (1.100 Meter), Mückentanz (mittlerer O-Pfeiler). 1. Begehung durch Herwig Sedlmayer und Rolf Thausing, Michael Olzowy und Andreas Wagner. Wandhöhe ca. 600 Meter, 20 Seillängen, meist IV und V, 3 Seillängen VI-, in 6 Stunden.

Große Zinne (ca. 1.050 Meter), 1. Besteigung über den SW-Rücken (II und IV) durch Tomy Weidmann und Günter Schweißhelm.

18. August

Rote Wand, Pinkus Corner, 1. Begehung durch Rolf Thausing und Herwig Sedlmayer, Wandhöhe 600 Meter, 18 Seillängen, meist VI und VII, VII+, 3 Stellen A1, in 10 Stunden.

Twin-Pillar (1.373 Meter), Erstbegehung der Ostkante Vereinsausflug durch Klaus Bierl, Inge, Bernd und Michael Olzowy, Andreas Wagner, Fritz und Tomy Weidmann und Günter Schweißhelm, Wandhöhe ca. 400 Meter, 10 Seillängen, meist V und VI, 1 Seillänge VII+, in 7 Stunden.

 

© 2000, AlpOnline


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